WWF-Bericht: Amazonas nähert sich Kipppunkt
Die Umweltorganisation WWF warnt, der Amazonas-Regenwald stehe “sehr kurz” vor Erreichen eines Kipppunktes durch die fortschreitende Entwaldung. Das Ziel des Pariser Klimaabkommens, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu beschränken, wäre dann außer Reichweite, heißt es in einem neuen Bericht der Organisation.
Der Amazonas-Regenwald erstreckt sich über etwa 6,9 Millionen Quadratkilometer in neun Ländern – etwas mehr als die Hälfte des Waldes liegt in Brasilien. Der Regenwald ist ein wichtiger Kohlenstoffspeicher und nimmt für das Weltklima und die Artenvielfalt eine Schlüsselrolle ein. Er gilt als eines der sogenannten Kippelemente, die das Klima auf der Welt aus dem Gleichgewicht bringen können.
Laut WWF-Bericht gibt es im Amazonas selbst drei theoretische Kipppunkte, die vom “Science Panel for the Amazon” definiert wurden: einen Jahresniederschlag von weniger als 1500 Millimetern, eine Trockenzeit von mehr als sieben Monaten und eine kumulierte Abholzung und Umwandlung natürlicher Ökosysteme von mindestens 20 Prozent.
Insgesamt haben laut dem Bericht bereits 34 Prozent der Fläche des Amazonas-Regenwaldes in den vergangenen zehn Jahren mindestens einen dieser kritischen Schwellenwerte erreicht. Das entspreche einer Fläche von 2,4 Millionen Quadratkilometern – mehr als die Hälfte der EU. Treiber dieser Entwicklung seien einerseits die fortschreitende Entwaldung als auch die globale Erderwärmung. Ohne sofortige Gegenmaßnahmen von Politik und Privatwirtschaft könnte der Amazonas bereits innerhalb des nächsten Jahrzehnts seine Funktion als wichtiger globaler Klimaregulator verlieren.
Amazonas steuert auf Kipppunkt zu
Mindestens 13 Prozent des Amazonasgebietes sind in den letzten 50 Jahren bereits verloren gegangen. Einige Berechnungen gehen sogar von 17 Prozent aus. Etwa alle drei Jahre geht ein weiteres Prozent des Ökosystems verloren. Laut dem Bericht bedeutet dies: Der Amazonas steuert schnell auf den kritischen Schwellenwert bei der Entwaldung zu, um den entsprechenden Kipppunkt auszulösen. In der Folge würde sich der Zustand des Waldes drastisch weiter verschlechtern. Zunehmende Dürren und Brände würden dann seine Erholung verhindern.
Die Folgen für Mensch und Umwelt wären laut WWF weltweit dramatisch, denn beim Erreichen des Kipppunktes wäre das Ziel des Pariser Klimaabkommens außer Reichweite. Etwa 367 bis 733 Gigatonnen CO2 sind laut WWF im Amazonasgebiet gespeichert. Durch die fortschreitende Zerstörung wird immer mehr davon in die Atmosphäre abgegeben. Der Weltklimarat der Vereinten Nationen (IPCC) schätzt, dass die Welt nur noch 360 bis 510 Gigatonnen CO2 emittieren kann, um das Klimaziel einzuhalten. Der Verlust des Waldes könnte das gesamte verbleibende Kohlenstoffbudget aufbrauchen.
Roberto Maldonado, Brasilien-Experte des WWF Deutschland, sagte: “Diese Studie ist ein schrillendes Alarmsignal für die Menschheit, denn sie zeigt, dass die doppelte Bedrohung durch Klimawandel und Abholzung den größten Regenwald der Welt in an den Rand des Abgrunds treibt. Der Amazonas ist von entscheidender Bedeutung für die Biodiversität, da zehn Prozent der weltweit vorkommenden Arten dort beheimatet sind. Aber er ist auch die grüne Lunge unserer Erde.”
Abholzung im Rekordtempo
Die Abholzung im Amazonasgebiet hat nach Angaben des WFF von Januar bis Oktober dieses Jahres einen neuen Rekordwert erreicht. Das brasilianische Nationale Institut für Weltraumforschung (INEP) hatte Anfang Oktober zudem von den schwersten Bränden im brasilianischen Amazonasgebiet seit zwölf Jahren berichtet.
Laut WWF tragen Landnutzungsänderungen, landwirtschaftliche Produktion, Bergbau, Infrastrukturbau und illegale Landnahme zur Walddegradierung und zum Waldverlust in der Region bei.
Knapp ein Drittel des Amazonasgebietes sei von indigenen Völkern bewohnt – dort gebe es die geringsten Entwaldungsraten. Dieses Land müsse geschützt werden, fordert der WWF. Zudem müsse die Abholzung von Wäldern und die Umwandlung natürlicher Lebensräume aus Lieferketten gestrichen werden.
Studien warnen vor Kipppunkt
Auch Wissenschaftler warnen, dass sich der Amazonas durch Entwaldung einem Kipppunkt nähert. Im März hatten Forschende der britischen Universität Exeter, der Technischen Universität München und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung in einer Studie festgestellt, der Wald habe kontinuierlich an Widerstandsfähigkeit eingebüßt. Auf mehr als drei Vierteln der Fläche habe seine Fähigkeit bereits nachgelassen, sich etwa von Dürren oder Bränden zu erholen. Mit einer sinkenden Widerstandsfähigkeit gehe ein erhöhtes Risiko einher, dass der Amazonas-Regenwald absterben könnte.
Im September hatte zudem ein Konsortium indigener Völker einen Bericht zum Amazonas-Regenwald vorgestellt und ebenfalls gewarnt: Mehr als ein Viertel des Waldes im Amazonasbecken sei bereits zerstört. Die gesamte Existenz des Regenwaldes stehe auf dem Spiel.
Der WWF Brasilien hat gemeinsam mit weiteren NGOs am 15. November auch Beschwerde bei fünf UN-Sonderberichterstattern in Genf gegen die Bolsonaro-Regierung wegen Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen eingereicht. Die Regierung Bolsonaros hatte seit ihrem Amtsantritt Anfang 2019 Kontrollmechanismen stetig abgebaut und den Umweltschutzbehörden Personal und Finanzierung entzogen.
Auch ein im Januar veröffentlichter Greenpeace-Bericht zog eine verheerende Bilanz von Bolsonaros Amtszeit: “In nur drei Jahren hat seine [Bolsonaros] Agenda zu einer dramatischen Verschlechterung der Natur, der Gemeinschaften und der biologischen Vielfalt geführt.”
Die Abholzung sei seit seinem Amtsantritt um fast 76 Prozent gestiegen, Brasilien stößt knapp 10 Prozent mehr Treibhausgase aus, 1500 neue Pestizide wurden zugelassen und es gab fast 40 Prozent mehr Landkonflikte. Diese Zunahmen seien zu einem großen Teil auf den systematischen Abbau von Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen zurückzuführen, so Greenpeace.
Neugewählter Präsident verspricht Amazonas-Schutz
Der im Oktober gewählte brasilianische Staatspräsident Luiz Inácio Lula da Silva hat angekündigt, den Kampf gegen den Klimawandel und den Schutz des Amazonasgebiets in seiner künftigen Regierungsarbeit in den Vordergrund zu stellen. “Es gibt keine Klimasicherheit in der Welt ohne ein geschütztes Amazonasgebiet”, sagte Lula am Mittwoch in Ägypten auf der laufenden Klimakonferenz COP27. Die von Bolsonaro geschwächten Umwelt- und Kontrollorgane will er wieder aufbauen und gegen die Abholzung in allen brasilianischen Ökosystemen vorgehen. Lula wird sein Amt im Januar 2023 antreten.
Auch die Gouverneure der brasilianischen Amazonas-Bundesstaaten haben sich gemeinsam zur Zusammenarbeit und zum Schutz der für das Weltklima wichtigen Region verpflichtet. Das gaben sie auf der Klimakonferenz bekannt. (dpa / js)