Afghanistan: "Katastrophale" Menschenrechtslage

Frauen auf den Straßen von Kabul im August 2022
Amnesty International kritisiert, in Afghanistan herrsche eine menschenrechtliche und humanitäre Krise – besonders betroffen seien Frauen und Mädchen. (Quelle: IMAGO / Kyodo News)

Ein Jahr nach der Machtergreifung der Taliban in Afghanistan zeichnen Menschenrechtsorganisationen ein düsteres Bild von der Situation im Land: Frauen und Mädchen werden ihre Rechte genommen, Kritiker willkürlich inhaftiert, gefoltert und getötet. Auch die Pressefreiheit wird bedroht.

Zwei Jahrzehnte des Fortschritts seien zunichte gemacht worden, heißt es in einem am Montag erschienen Bericht von Amnesty International. Hart erkämpfte Rechte, die in der afghanischen Verfassung von 2004 und in internationalen Menschenrechtsverträgen verankert sind, seien verloren gegangenen. Nun herrsche in dem Land eine “Menschenrechtskrise”.

Die Organisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert, die Taliban hätten mehrfach ihre Versprechen in Bezug auf die Menschenrechte gebrochen. Sie hatten etwa erklärt, sie hätten ihre Haltung zur Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben geändert. Doch dies sei innerhalb kurzer Zeit widerlegt worden, kritisiert Amnesty International. So hatte ein Taliban-Sprecher Frauen bereits am 24. August aufgefordert, vorerst zu Hause zu bleiben.

Frauenministerium wurde abgeschafft

Gut einen Monat nach der Übernahme der Hauptstadt Kabul wurde das bisherige Frauenministerium in ein “Ministerium für Tugend und gegen Laster” umgewandelt. Damit sei eine Einrichtung, die für den Schutz von Frauenrechten zuständig war, durch eine Behörde ersetzt worden, die ebendiese Rechte untergrabe. Für von Gewalt betroffene Frauen gebe es keinen Schutz mehr, da auch Notunterkünfte aufgelöst wurden.

Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International, kritisierte: “In den letzten zwei Jahrzehnten haben Millionen Mädchen Zugang zu Bildung erhalten, und Frauen konnten aktiv am politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben des Landes teilnehmen. Nun werden ihnen Ausbildung und Teilhabe am öffentlichen Leben verwehrt, sie erfahren in nahezu jedem Lebensbereich systematisch Diskriminierung.”

Seit Mai dürfen Frauen das Haus nur noch verhüllt verlassen. Längere Reisen dürfen sie nur im Beisein von männlicher Begleitung unternehmen – viele Familien könnten diese Bedingung aber gar nicht erfüllen, kritisiert HRW.

Außerdem wird den meisten Mädchen im Sekundarschulalter weiterhin der Zugang zu Bildung verweigert. Die Taliban hatten zwar versprochen, die weiterführenden Schulen für Mädchen wieder zu öffnen – sie aber nach nur wenigen Stunden wieder geschlossen.

“Die Taliban sollten sofort ihre entsetzliche und frauenfeindliche Entscheidung, Mädchen und Frauen vom Besuch weiterführender Schulen auszuschließen, rückgängig machen”, forderte Fereshta Abbasi, Afghanistan-Forscherin bei HRW.

Taliban schlagen Proteste nieder

Amnesty berichtet, die neuen Machthaber würden zudem keine Demonstrationen tolerieren. Bereits Anfang September 2021 hatte das neubesetzte Innenministerium “nicht genehmigte” Versammlungen verboten. Um das Verbot durchzusetzen, würden friedliche Proteste gewaltsam niedergeschlagen.

Aufgrund dieser Vorfälle habe es in den vergangenen Monaten kaum noch große Proteste gegen die Taliban gegeben. Kleinere Kundgebungen gebe es aber weiterhin – die meisten würden von Frauen abgehalten, die beispielsweise Zugang zu Bildung fordern. Solche Versammlungen würden jedoch sofort beendet, wenn die Taliban davon erfahren. Viele Frauen seien auf Demonstrationen geschlagen worden. Erst am vergangenen Wochenende hatten die Islamisten eine Demonstration von Frauen mit Warnschüssen aufgelöst. Medienschaffende, die über Demonstrationen berichten, würden geschlagen oder verhaftet.

Zwei bewaffnete Taliban-Kämpfer
Taliban-Kämpfer in Kabul Ende Juli. (Quelle: IMAGO / Xinhua)

Auch die Meinungs- und Pressefreiheit wird in Afghanistan eingeschränkt. Laut einer aktuellen Erhebung von Reporter ohne Grenzen (RSF) ist die afghanische Medienlandschaft um mehr als ein Drittel geschrumpft. “Der Journalismus in Afghanistan blutet aus”, konstatierte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.

Geschrumpfte Medienlandschaft

Nach Angaben der Organisation gab es vor der Machtübernahme noch 547 Medien in Afghanistan. Inzwischen haben 219 davon ihre Arbeit eingestellt. Von den vormals 11.857 Journalistinnen und Journalisten sind nur noch 4759 aktiv – weniger als die Hälfte. Besonders stark sind Journalistinnen betroffen: Gut 76 Prozent von ihnen haben ihren Arbeitsplatz verloren oder haben aus Angst vor den Taliban aufgegeben. Laut RSF arbeiten in elf der 34 afghanischen Provinzen überhaupt keine Frauen mehr in den Medien.

Journalistinnen würde etwa “unmoralisches Verhalten” vorgeworfen, um sie unter Druck zu setzen, bis sie ihren Beruf aufgeben. Im Fernsehen müssen Frauen ihr Gesicht bedecken.

Die Berichterstattung der verbliebenen Medienschaffenden wird durch verschiedene Dekrete eingeschränkt: So dürfen etwa keine Regierungskritiker interviewt werden. Ein anderes Dekret besagt, wer Regierungsmitarbeiter “verleumdet”, werde bestraft. Diese Vorschriften hätten zu Zensur und Selbstzensur geführt, so RSF.

RSF-Geschätsführer Mihr kommentierte: “Die Taliban haben zahlreiche Gesetze erlassen, die die Pressefreiheit einschränken und die Verfolgung und Einschüchterung von Medien sowie Journalistinnen und Journalisten begünstigen. Medienschaffende können nur ihre Arbeit machen, wenn die Taliban endlich ihre Repressionen einstellen.”

Die Organisation berichtet auch von willkürlichen Festnahmen: Seit dem 15. August 2021 seien mindestens 80 Journalisten teils auf brutale Weise verhaftet worden. Drei befänden sich aktuell im Gefängnis.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF belegt Afghanistan Platz 156 von 180 Staaten – im Jahr 2021 lag das Land noch auf Rang 122.

Folter und Hinrichtungen

Amnesty International kritisiert außerdem, die Taliban seien für Folter und Hinrichtungen verantwortlich. So gebe es zahlreiche Berichte, dass Afghaninnen und Afghanen verprügelt und gefoltert wurden, weil sie angeblich gegen Erlasse der neuen Regierung verstoßen haben oder mit der früheren Regierung zusammengearbeitet haben sollen. Auch Fälle von Rachemorden und Hinrichtungen hat die Organisation dokumentiert. Menschenrechtsaktivisten seien schikaniert, inhaftiert oder getötet worden. Dutzende Menschen seien verschwunden, weil sei mit der vorherigen Regierung zusammengearbeitet haben oder weil sie verdächtigt werden, am Widerstand gegen die Taliban beteiligt gewesen zu sein. Zudem habe es rechtswidrige Vertreibungen von nicht-paschtunischen Afghanen aus ihren Häusern oder von ihren Farmen gegeben. Solche Verbrechen blieben in der Regel straflos.

Theresa Bergmann von Amnesty erklärte: “Insgesamt regieren die Taliban mittels gewaltsamer Unterdrückung: Willkürliche Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen oder Hinrichtungen im Schnellverfahren sind an der Tagesordnung.”

Die Organisation fordert die Taliban auf, “ihre schweren Menschenrechtsverletzungen und völkerrechtlichen Verbrechen sofort zu beenden”. Als De-facto-Regierung müssten die Taliban die Rechte der afghanischen Bevölkerung wiederherstellen. Die internationale Gemeinschaft müsse zudem Maßnahmen ergreifen, um die Taliban zur Rechenschaft zu ziehen. Human Rights Watch fordert die internationale Gemeinschaft ebenfalls dazu auf, Druck auszuüben.

Reporter ohne Grenzen verweist zudem darauf, dass sich weiterhin gefährdete Medienschaffende in Afghanistan aufhalten. Die deutsche Bundesregierung müsse dringend erklären, wie das von ihr angekündigte Aufnahmeprogramm ausgestaltet werden soll. Die Organisation Pro Asyl kritisiert außerdem, Deutschland komme seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Aufnahme von sogenannten Ortskräften aus Afghanistan bisher nicht ausreichend nach. Das Verfahren, um Menschen aufzunehmen, die für deutsche Einrichtungen tätig waren, müsse überarbeitet werden. (js)