Bayerisches Verfassungsschutzgesetz ist teilweise verfassungswidrig

Das bayerische Verfassungsschutzgesetz war im Jahr 2016 allein mit den Stimmen der CSU verabschiedet worden. (Quelle: Rainer Lück – CC BY-SA 3.0 DE)

Die weitreichenden Befugnisse des bayerischen Verfassungsschutzes verstoßen teilweise gegen Grundrechte. Das hat das Bundesverfassungsgericht am heutigen Dienstag entschieden. Betroffen sind wesentliche Teile des Gesetzes, darunter die Regelungen zur Online-Durchsuchung, zur Handy-Ortung und zur Wohnraumüberwachung. Das Gesetz muss nun überarbeitet werden – und möglicherweise müssen auch der Bund und andere Bundesländer ihre Verfassungsschutzgesetze ändern.

Das Grundgesetz lasse dem Gesetzgeber “substanziellen Raum, den sicherheitspolitischen Herausforderungen auch im Bereich des Verfassungsschutzes Rechnung zu tragen”, sagte Gerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Urteilsverkündung. “Zugleich setzt die Verfassung hierbei gehaltvolle grundrechtliche Schranken.”

Die Novelle des bayerische Verfassungsschutzgesetzes (BayVSG) war im August 2016 in Kraft getreten. Dagegen hatten im Jahr 2017 drei Personen geklagt, die erfahren hatten, dass sie vom Verfassungsschutz überwacht werden. Sie sind Mitglieder in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Die Organisation wurde jahrelang im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt – im kürzlich vorgestellten Bericht für das Jahr 2021 taucht sie nicht mehr auf. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) hatte die Klage koordiniert.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass mehrere Vorschriften des BayVSG nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Sie verstoßen nach Ansicht der Richterinnen und Richter teilweise gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das Grundrecht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme, das Fernmeldegeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung.

Online-Durchsuchung und Wohnraumüberwachung

Zu den beanstandeten Regelungen zählt die Online-Durchsuchung: Das Gesetz erlaubt dem bayerischen Verfassungsschutz, mit Trojaner-Software die Geräte von Verdächtigen auszuspähen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, dies sei nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme vereinbar. Eine Online-Durchsuchung dürfe “nur zur ‘Abwehr’ einer mindestens konkretisierten Gefahr im polizeilichen Sinne zugelassen werden.” Im Gesetz sei die Maßnahme nicht auf diese Zwecksetzung begrenzt.

Bei der Auswertung von Daten aus der Online-Durchsuchung sei zudem der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht ausreichend geschützt. Es sei nicht gewährleistet, dass alle aus der Überwachung stammenden Informationen “vollständig durch eine unabhängige Stelle auf ihre Kernbereichsrelevanz hin gesichtet werden”, bevor die Behörde sie zur Kenntnis nimmt.

Auch die Regelung zur Ortung von Mobiltelefonen ist verfassungswidrig, da sie keine hinreichend bestimmten Eingriffsvoraussetzungen enthält. Die Richter merkten an, es sei nicht ausgeschlossen, dass Bewegungsprofile von Betroffenen erstellt werden – dies wäre ein schwerer Grundrechtseingriff. Es fehle an einer unabhängigen Vorabkontrolle.

Das bayerische Gesetz erlaubt auch verdeckte Maßnahmen, um Wohnräume mittels Ton- und Bildaufzeichnungen zu überwachen. Das Gericht urteilte hierzu ebenfalls, der Kernbereich privater Lebensgestaltung sei nicht ausreichend geschützt.

Die Kläger hatten außerdem argumentiert, das Gesetz missachte das informationelle Trennungsprinzip zwischen Geheimdiensten und Polizei. Denn der bayerische Verfassungsschutz darf bisher mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhobene Daten an inländische Stellen übermitteln – diese könnten also an Daten gelangen, die sie selbst nicht erheben dürfen. Weil eine solche Informationsübermittlung für “Zwecke der öffentlichen Sicherheit” vorgesehen ist, sei “keine hinreichende Übermittlungsvoraussetzung” festgeschrieben, urteilten die Richter. Die Vorschrift müsse auf den “Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern” beschränkt sein.

Zugriff auf Vorratsdaten

Das Gesetz erlaubt dem bayerischen Verfassungsschutz außerdem den Zugriff auf gespeicherte Vorratsdaten. Diese Regelung verstoße gegen das Fernmeldegeheimnis, “weil sie zum Datenabruf ermächtigt, ohne dass die betroffenen Diensteanbieter nach Bundesrecht zur Übermittlung dieser Daten an das Landesamt verpflichtet oder berechtigt wären”. Diesen Paragrafen erklärte das Bundesverfassungsgericht für nichtig, er gilt also ab sofort nicht mehr.

Die Vorratsdatenspeicherung ist in Deutschland allerdings ohnehin seit 2017 ausgesetzt. Derzeit prüft der Europäische Gerichtshof (EuGH), ob die deutschen Vorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung hatte der EuGH in anderen Fällen bereits eine Absage erteilt.

Die übrigen beanstandeten Vorschriften des BayVSG – darunter auch die zum Einsatz sogenannter V-Leute – gelten eingeschränkt vorerst weiter. Bis Ende Juli 2023 muss das Gesetz nun überarbeitet werden.

Bayern kündigt Reform an

Die GFF bezeichnete die Entscheidung des Gerichts als “Grundsatzurteil”. GFF-Anwalt Bijan Moini kommentierte: “Heute ist ein guter Tag für die Grundrechte und den Rechtsstaat in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Verfassungsschutz klare Grenzen gesetzt: Trotz seiner besonderen Befugnisse und Aufgaben gilt für den Inlandsgeheimdienst kein Freifahrtschein bei Grundrechtseingriffen. Wer im Auftrag der wehrhaften Demokratie für den Schutz der Verfassung arbeitet, muss sich auch selbst an ihre Regeln halten.”

Moini sagte: “Die Klage der Gesellschaft für Freiheitsrechte hat das Risiko deutlich reduziert, dass unbescholtene Bürgerinnen und Bürger überwacht und abgehört werden.” Das Urteil habe darüber hinaus Auswirkungen auf die Regelungen in anderen Bundesländern: “Dieses Urteil strahlt in die ganze Republik aus. Denn viele andere Verfassungsschutzbehörden in den Ländern und im Bund haben ähnliche Befugnisse. Sie müssen nun ihre Gesetze kritisch prüfen und überarbeiten.”

Auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte am Dienstag: “Es müssen wahrscheinlich der Bund und alle Länder ihre Gesetze ändern. Denn es gibt nach meiner Kenntnis kein einziges Gesetz, das all diesen Vorgaben, die heute formuliert worden sind, entspricht.”

Bayerns Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) kündigte am Dienstag eine Reform des Verfassungsschutzgesetzes an. Bayern werde zunächst den Richterspruch aus Karlsruhe genau analysieren und dann das Gesetz entsprechend der Vorgaben anpassen. Zwar seien in dem 150 Seiten umfassenden Urteil “etliche Bestimmungen des bayerischen Gesetzes” kritisiert worden, es gehe aber dabei nicht darum, bestimmte Befugnisse zu verbieten, betonte Herrmann. Vielmehr müsse der Gesetzgeber nun die Voraussetzungen für bestimmte Maßnahmen konkreter regeln.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bezeichnete das Urteil als “klares Signal für die Stärkung der Bürgerrechte, gerade auch im digitalen Raum”. Die Entscheidung gebe der Bundesregierung “Rückenwind für das Programm unseres Koalitionsvertrages”. SPD, FDP und Grüne hatten unter anderem vereinbart, die Hürden für die Überwachung verschlüsselter Kommunikation – die sogenannte Quellen-TKÜ – künftig auf das Niveau zu erhöhen, das nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bereits für die Online-Durchsuchung gilt. (dpa / js)