Uranatlas 2022: Atomkraft stärkt Europas Abhängigkeit von Russland

Uran Yellowcake
Über ein Drittel des angereicherten Urans weltweit stammt aus Russland. (Quelle: IMAGO / ITAR-TASS)

Die neue Auflage des Uranatlas macht klar: Europa wird sich von Russland nicht wirtschaftlich lösen können, solange die Staaten weiter Strom aus Atomkraft nutzen. Denn sowohl Deutschland als auch weitere europäische Staaten beziehen einen Großteil des hierfür benötigten Urans aus Minen in Russland und Kasachstan.

Der in der vergangenen Woche veröffentlichte Uranatlas wird vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gemeinsam mit der Nuclear Free Future Foundation, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Umweltstiftung Greenpeace und “.ausgestrahlt” herausgegeben. Demnach stammen rund 40 Prozent der europäischen Uranimporte aus Russland und Kasachstan. So bestehe für die europäischen Staaten neben fossilen Energieimporten noch eine weitere signifikante Abhängigkeit von Russland.

Wolle Europa im Energiebereich wirklich unabhängig von Russland werden, “muss es auch im Atombereich seine Zusammenarbeit mit Russland schnellstmöglich einstellen”, betonte Uwe Witt, Referent Klimaschutz und Strukturwandel bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Im Uranatlas wird beleuchtet, in welchen Regionen der Erde Uran abgebaut, verwertet oder auch entsorgt wird. Die Geschichte der Uranwirtschaft ist meist von Ausbeutung und Umweltzerstörung geprägt. So bestimmen in Afrika bis heute ausländische Firmen den Abbau des radioaktiven Erzes – und hinterlassen verseuchtes Land und eine gesundheitlich beeinträchtigte Bevölkerung. Auch in Kanada und den USA leiden indigene Einwohner unter der uranbedingten Verseuchung ganzer Landstriche. Mitteleuropa hat währenddessen mit den Altlasten des Uranabbaus zu kämpfen.

Atomkraft bringt keine Versorgungssicherheit

Im Mittelpunkt der russischen Uranwirtschaft steht der Staatskonzern Rosatom. Er wurde 2007 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin gegründet, untersteht direkt dem Kreml und hält Beteiligungen an Uranminen vor allem in Kasachstan, aber auch in Kanada und den USA. Mit jährlich 7122 Tonnen Uran fördert der Konzern 15 Prozent der globalen Gesamtmenge und ist der zweitgrößte Uranproduzent der Welt.

Angela Wolff, Referentin Atom- und Energiepolitik beim BUND, erklärt: “Bei der Herstellung von angereichertem Uran, das für den Betrieb von Atomkraftwerken benötigt wird, ist die Abhängigkeit noch größer: Über ein Drittel des weltweiten Bedarfs kommt vom russischen Staatskonzern.”

Vor allem Osteuropa sei zudem speziell auf russische Brennelemente angewiesen, weil Reaktoren in Tschechien, Ungarn, Bulgarien, der Slowakei – und Finnland – nur mit diesen sechseckigen Brennstäben betrieben werden könnten. Insgesamt gäbe es 18 Reaktoren dieses Typs in der EU.

Russland ignoriert Umweltprobleme

Über Details des Uranabbaus in den drei verbliebenen Minen Russlands schweige sich Rosatom aus: Der 225 Seiten umfassende Geschäftsbericht beinhalte nur Produktions- und Kennzahlen zum Uranbergbau. Details fänden keine Erwähnung – und erst recht keine Probleme.

Uranexperte Paul Robinson berichtet im Uranatlas: “In einigen Häusern in der Umgebung von Uranminen in Krasnokamensk wurden Radon-Konzentrationen von bis zu 28.000 Becquerel pro Kubikmeter gemessen; dieser Wert liegt 190 mal über dem Grenzwert, bei dem zum Beispiel in den USA Sofortmaßnahmen gesetzlich vorgeschrieben sind.”

Stillgelegte Minen würden in Russland nicht saniert werden. Umweltschutzorganisationen, die sich um deren Sicherung kümmern wollten, würden vom Staat bedrängt werden. Der Atomphysiker Oleg Bodrov beispielsweise habe 2017 die Leitung der Organisation Green World abgeben müssen, weil er sich für die Stilllegung aller Atomkraftwerke in Russland und die Einstellung des Uranbergbaus engagiert hatte.

Importstopp für Russland reicht nicht

Während Rosatom den Bau von insgesamt 35 neuen Atomkraftwerken im Ausland plant – unter anderem in Belarus, Bulgarien, China, Finnland und Ungarn – stünde die EU-Kommission in Zugzwang, erklärte Armin Simon von der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt. Die EU-Kommission habe noch vor wenigen Wochen die Aufnahme von Atomkraft und fossilem Gas in die EU-Taxonomie mit Versorgungssicherheitsaspekten begründet, so Simon. “Diese Begründung hat sich für alle sichtbar als falsch herausgestellt. Anders als behauptet, trägt Atomkraft gerade nicht zur Versorgungssicherheit bei.”

Ein Importstopp für atomare Brennstoffe aus Russland, wie es das EU-Parlament bereits gefordert hat, greife zu kurz. “Die EU-Kommission muss ihre Position hierzu revidieren. Ansonsten muss das EU-Parlament die Notbremse ziehen”, forderte Simon.

Der BUND weist darauf hin, dass Unionspolitikerinnen und -politiker trotz der prekären Lage Laufzeitverlängerungen für deutsche Atomkraftwerke fordern. Beispielsweise Bayerns Ministerpräsident “Markus Söder führt eine groteske Scheindebatte”, sagte Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND. “Seine Rufe nach Atomkraft sind angesichts der nuklearen Bedrohungen durch AKW im Kriegsgebiet [in der Ukraine] und Putins Atombomben-Drohungen ein politisches und moralisches Armutszeugnis.”

Kritiker als Staatsfeinde

Das in Europa benötigte Uran von anderen Staaten als Russland zu beziehen, stellt aus Sicht der Autoren keine Alternative dar. Denn die Bedingungen, unter denen der Brennstoff abgebaut wird, seien überall prekär. Und wer in China den Uranbergbau kritisiere, gelte als Staatsfeind.

Als Beispiel wird der Aktivist und Nuclear-Free-Future-Award-Träger Sun Xiaodi genannt. Er hatte ein Lagerhaus an einem der größten Bergwerke Chinas geleitet und von 1988 an Fragen zu Gesundheitsschäden und Strahlenbelastung gestellt. Nachdem er 2005 einem französischen Journalisten ein Interview gegeben hatte, wurde er unter Hausarrest gestellt. 2009 wurde Sun Xiaodi nach Berichten der Ärzteorganisation IPPNW wegen Aufhetzung der Öffentlichkeit zu zwei Jahren Straflager verurteilt.

Afrika profitiert nicht von Abbau

In Afrika finden sich aktive Minen heutzutage in Niger, Namibia, und Südafrika. Obwohl Niger, gemessen am historischen Gesamtabbau, der achtgrößte Uranproduzent der Welt ist, habe die Bevölkerung nicht von dem Boom seit den 60er-Jahren profitiert. Denn heute gehört das Land zu den ärmsten der Welt. Dabei wurden rund 152.000 Tonnen Uran mit einem aktuellen Marktpreis von rund 40 Milliarden US-Dollar exportiert.

Was – hauptsächlich vom französischen Atomkonzern Areva – hinterlassen wurde, seien strahlende Abfälle. In den Umgebungen der Minen läge die Strahlenbelastung des Wassers teils zehn- bis hundertfach so hoch, wie von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlen. Straßen seien aus strahlenden Gesteinsresten gebaut worden. In der Bergbaustadt Arlit am südlichen Rand der Sahara lägen 35 Millionen Tonnen radioaktiver Abraum offen herum. Die Hintergrundstrahlung sei dort um das 200-Fache erhöht. Dennoch seien drei neue Minen geplant.

Unter dem Apartheidssystem Südafrikas gehörte es jahrzehntelang zum Standard, dass Arbeiterinnen und Arbeiter mit verdächtigen Krankheitssymptomen einen letzten Monatslohn erhielten und entlassen wurden. Dort ist Uran nur ein Nebenprodukt der Goldminen. Das reiche aber, um Südafrika zum wichtigsten Uranproduzenten Afrikas zu machen.

“Atomkraft trägt nichts zur Lösung der Klimakrise bei.”

Die Autoren des Uranatlas warnen außerdem davor, Atomkraft als “Klimaretter” anzusehen, wie es zur Zeit immer wieder von Interessensverbänden und Politikern suggeriert würde. “Klimaschutz ist derzeit das zentrale Argument, um Atomkraft wieder salonfähig zu machen”, heißt es im Uranatlas.

So behaupte die Internationale Atomenergie-Organisation IAEA in ihrer Broschüre “Nuclear Power and the Paris Agreement”, dass auch Atomenergie gebraucht werde, um die Ziele des Pariser Klimavertrags zu erreichen. Mit dieser Begründung will auch die EU-Kommission Atomenergie in der EU-Taxonomie als nachhaltig einstufen.

Aus Sicht der Autorinnen und Autoren vernachlässigen diese Forderungen aber die gesundheitlichen und umwelttechnischen Gefahren des Uranabbaus, die Möglichkeit eines Super-GAUs und die immer noch ungelöste Endlagerfrage. Horst Hamm, Projektleiter der Uranatlanten erklärte deswegen: “Atomkraft trägt nichts zur Lösung der Klimakrise bei.” Zudem sei der Bau neuer Atomkraftwerke zu teuer und zu langsam, um künftig etwas für den Klimaschutz bewirken zu können.

“Nicht einmal bestehende Kernkraftwerke sind im Vergleich zu erneuerbaren Energien noch konkurrenzfähig, wie das Beispiel USA im Uranatlas zeigt”, ergänzte Hamm. Sechs US-Reaktoren würden dort vorzeitig stillgelegt, weitere sollen folgen. Die Atomindustrie sei bereits in den vergangenen Jahrzehnten hochsubventioniert gewesen – und rein ökonomisch betrachtet nicht überlebensfähig.

Neubauprojekte: Fass ohne Boden

So sei weltweit betrachtet jeder achte Neubau eines Atomkraftwerks vor der Inbetriebnahme aufgegeben worden. Grund seien oftmals Verzögerungen bei der Fertigstellung und steigende Kosten während des Baus gewesen. Beispiele fänden sich unter anderem in Chile, Indonesien, Jordanien, Litauen, Südafrika, Thailand und Vietnam.

Doch auch in Europa gibt es Reaktoren, deren Inbetriebnahme sich um Jahre verzögert hat und deren Kosten immer weiter steigen: Der Bau des ersten europäischen Druckwasserreaktors (EPR) im finnischen Olkiluoto startete 2005 und sollte 2009 beendet sein. Nun, im Laufe des Jahres 2022, mit 13 Jahren Verzögerung, soll dort die reguläre Stromerzeugung beginnen.

Der neue Meiler in Flamanville, Frankreich wird seit 2007 gebaut und sollte 2012 betriebsbereit sein. Aufgrund technischer und industrieller Probleme wird er nun frühestens 2023 in Betrieb genommen. Mit prognostizierten Kosten von 19 Milliarden Euro wird das Kraftwerk voraussichtlich sechsmal so teuer wie geplant. Die Kosten des finnischen EPR sind von veranschlagten etwa 3 Milliarden Euro auf inzwischen knapp 11 Milliarden Euro gestiegen.

Erneuerbare günstiger als Atomstrom

Bei der Kostenberechnung der Atomkraft müssten auch Posten wie die Beseitigung von Schäden des Uranbergbaus sowie Rückbau und Endlagerung der verstrahlten Abfälle eingepreist werden. Letztere seien aber schwer zu beziffern. Die Atomindustrie habe laut Uranatlas “weder den wahren Preis ihres Wirtschaftens ermittelt, noch ihre wirtschaftliche Situation angemessen beleuchtet”. Stattdessen seien immer wieder staatliche Subventionen gezahlt worden – auch aufgrund der Verflechtungen mit dem Bau von Atombomben und dem Unterhalt atomar betriebener U-Boote und Kriegsschiffe.

Nach Berechnungen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme aus dem Jahr 2021 ist die Stromerzeugung mithilfe von Kernspaltung so teuer wie kaum eine andere Methode. Nur Energie aus Gas und Steinkohle kostet noch mehr pro Kilowattstunde. So berechneten die Forscherinnen und Forscher für eine Kilowattstunde Atomstrom einen Preis von 13,5 Euro-Cent. Die Kilowattstunde aus Steinkohle kostet 15,5 Cent und aus Gas 20,2 Cent.

Hingegen ist die Energiegewinnung aus erneuerbaren Ressourcen teils deutlich preiswerter: Eine Kilowattstunde aus Offshore-Windanlagen koste nur 9,7 Cent, onshore 6,1 Cent und Photovoltaikanlagen auf Freiflächen in Süddeutschland produzierten die Kilowattstunde für 3,6 Cent. In sonnenreicheren Ländern wie im ölreichen Saudi-Arabien wird es noch günstiger. Dort sei ein 600 Megawatt-Solar-Projekt ans Netz gegangen, das die Kilowattstunde für 1,04 US-Cent generiere.

Die Autorinnen und Autoren sehen die Zukunft der nachhaltigen Energiegewinnung nicht in der Atomkraft, sondern bei den Erneuerbaren wie Wind und Solar. “Die erneuerbaren Energien sind inzwischen preisgünstiger als Kohle-, Gas- oder Atomkraftwerke, auch wenn man deren Folgekosten nicht mitrechnet”, sagte Heinz Smital, Atom-Campaigner von Greenpeace. Selbst alte und abgeschriebene Anlagen könnten oft nicht mehr mithalten.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986 hat sich zum 36. Mal gejährt. Dennoch wird Atomenergie heutzutage wieder als Lösung präsentiert in Europa. Angesichts dessen fordert der BUND die Bundesregierung auf, bei ihrem Nein zu Laufzeitverlängerungen zu bleiben und den Atomausstieg zu vollenden. (hcz)