Bundesverfassungsgericht prüft automatisierte Datenauswertung durch Polizeibehörden
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am Dienstag zwei Verfassungsbeschwerden zu sogenanntem Data Mining verhandelt. Konkret geht es um Befugnisse in den Polizeigesetzen in Hessen und Hamburg, die den dortigen Behörden erlauben, große Datenbestände mithilfe von Software auszuwerten. Hessen setzt ein solches System bereits ein. Die Klägerinnen und Kläger warnten in der Verhandlung in Karlsruhe davor, dass auf diese Weise auch unbescholtene Menschen ins Visier der Behörden geraten könnten. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die beide Klagen eingereicht hat, hofft auf ein Grundsatzurteil.
In den Fällen geht es um automatisierte Datenauswertung zur Vorbeugung von Straftaten – sogenanntem Predictive Policing. Die GFF kritisiert, die Rechtsgrundlagen in Hessen und Hamburg würden der Polizei erlauben, mithilfe von Software Personenprofile zu erstellen. Verfahrenskoordinatorin Sarah Lincoln von der GFF verglich die automatisierte Datenauswertung im Vorfeld mit einem “hyperintelligenten Google für Polizisten”. Die Software durchforste riesige Datenbestände, um neue Ermittlungsansätze und Verdachtsmomente zu generieren. Die Organisation sieht dadurch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt.
GFF warnt vor “gläsernem Menschen”
In Hessen kommt bereits seit 2017 das System “Hessendata” zum Einsatz. Es basiert auf der Software “Gotham” des US-amerikanischen Anbieters Palantir. Die Firma ist wegen ihrer Verbindungen zu US-Militär sowie zu US-amerikanischen Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden äußerst umstritten.
Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) warb vor Gericht für die Technik. Er sagte, die Software habe immensen Mehrwert für die polizeiliche Analyse. Ein vollständiges Bild ergebe sich erst, wenn alle Puzzleteile zusammengebracht würden – von Hand könne das bei den riesigen Datenmengen kaum gelingen. Gerade bei der Abwehr terroristischer Gefahren sei Zeit ein entscheidender Faktor.
In Hessen fließen in die Datenanalyse etwa personenbezogene Daten aus Polizeidatenbanken ein. Dort sind allerdings auch Opfer und Zeugen erfasst. Die GFF befürchtet außerdem, dass auch externe Daten in die Analyse einfließen können – etwa von anderen Behörden oder auch aus sozialen Netzwerken.
Auf diese Weise könnten unbescholtene Menschen ins Visier geraten: Die gleiche Adresse oder der gleiche Fußballverein könnten bereits ausreichen, damit die Software Verbindungslinien zieht. Wer einmal in den Fokus einer Datenauswertung gerate, werde schnell zum “gläsernen Menschen”.
Beuth versicherte in der Verhandlung, es gebe keine Anbindung an das Internet und auch keinen automatisierten Zugriff auf Daten aus sozialen Netzwerken. Vor Beginn hatte der Minister Journalisten gesagt, unter bestimmten Voraussetzungen könnten auch Daten von außen genutzt werden. Das sei aber die Ausnahme und nicht die Regel.
Die GFF kritisiert in ihren Verfassungsbeschwerden unter anderem, dass die entsprechenden Rechtsgrundlagen unklar lassen, aus welchen Quellen, mit welcher Datenmenge und zu welchem Zweck die Polizei die Befugnis zum Data Mining nutzen darf. Auch die Eingriffsschwelle sei viel zu niedrig.
Verfahrenskoordinator Bijan Moini kritisierte: “Verschiedene Daten auch von unbescholtenen Menschen zusammenzuführen, um mit einer Software Verdachtsmomente zu generieren – was nach amerikanischem Science Fiction klingt, ist so nicht mit der Verfassung vereinbar. Umso wichtiger, dass das Bundesverfassungsgericht hier frühzeitig Grenzen zieht.”
Zu viele Berechtigte
Kritik gibt es auch von Datenschützern: In Hessen arbeiten mehr als 2000 Polizistinnen und Polizisten mit dem System – auch wenn sie jeweils nur für ihren Zuständigkeitsbereich freigeschaltet sind. Das seien zu viele Berechtigte, bemängelte der Hessische Landesdatenschutzbeauftragte Alexander Roßnagel. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber gab zu bedenken, dass die aktuelle Nutzung erst der Anfang sei. Schon in naher Zukunft würden sehr viel mehr Stellen auf sehr viel mehr Daten zugreifen können.
Die GFF hatte im Jahr 2019 gemeinsam mit der Humanistischen Union und weiteren Organisationen Verfassungsbeschwerde gegen das Hessische Sicherheits- und Ordnungsgesetz eingelegt.
Im Jahr 2020 hatte die Organisation zudem unter anderem gemeinsam mit Journalistinnen und Journalisten gegen das “Hamburgische Gesetz über die Datenverarbeitung bei der Polizei” geklagt.
Die GFF hofft auf ein Grundsatzurteil – mit den Klagen soll erreicht werden, dass die Richterinnen und Richter strenge Maßstäbe für den Einsatz von Werkzeugen zur automatisieren Datenanalyse aufstellen. Ein Urteil wird aber erst in einigen Monaten erwartet.
Die GFF zeigte sich nach der Verhandlung zufrieden. Sarah Lincoln erklärte: “Die vielen detaillierten Nachfragen des Gerichts zeigen, dass auch die Richterinnen und Richter die vagen Normen zur automatisierten Datenauswertung kritisch sehen. Insbesondere stand die Frage im Raum, ob die Einhaltung der rechtlichen Grenzen überhaupt technisch umsetzbar ist.”
Auch bei der Zweckbindung hätten die Richterinnen und Richter Nachfragen gehabt. Denn einmal erhobene Daten dürften nicht ohne weiteres für einen anderen Zweck weiterverwendet werden. Lincoln kommentierte: “Derzeit wird die Herkunft der Daten aber gar nicht gekennzeichnet – wie soll dann die Einhaltung der Zweckbindung funktionieren?”
Auch NRW nutzt Palantir-Software
In Hamburg besteht nur die Rechtsgrundlage für den Einsatz von Analysesoftware – ein solches System wird aber anders als in Hessen noch nicht verwendet.
Unter dem Namen “DAR” ist das Palantir-System auch in Nordrhein-Westfalen im Einsatz. Die GFF hatte im Oktober auch gegen die Befugnis zur automatisierten Auswertung großer Datenbestände im dortigen Polizeigesetz Verfassungsbeschwerde erhoben. Diese ist nicht Teil des aktuellen Verfahrens.
Auch in Bayern wird gerade eine ähnliche Plattform mit dem Namen “VerA” (“Verfahrensübergreifendes Recherche- und Analysesystem”) eingeführt. Das Bayerische Landeskriminalamt hatte im März einen Rahmenvertrag mit Palantir abgeschlossen und erklärt, dadurch hätten Polizeibehörden von Bund und Ländern nun die Möglichkeit, das Analysesystem “ohne zusätzliche aufwändige Vergabeverfahren” zu nutzen. (dpa / js)