Human Rights Watch: Jahresbericht zur Lage der Menschenrechte
Das Jahr 2022 war geprägt von einer Reihe menschenrechtlicher Krisen. Zu diesem Schluss kommt die Organisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem am Donnerstag veröffentlichten “World Report 2023”. Die weltweiten Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine würden aber auch an das Potenzial erinnern, das entstehe, wenn Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen auf globaler Ebene wahrnehmen.
In dem 712 Seiten starken, jährlich erscheinenden, “World Report” dokumentiert HRW die Menschenrechtslage in knapp 100 Ländern. Die Organisation kritisiert unter anderem den russischen Angriffskrieg, die Missachtung der Menschenrechte durch die Taliban und die Unterdrückung kritischer Stimmen in Ländern wie Belarus.
Die Organisation berichtet, die russische Armee habe in der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, darunter Folter und Hinrichtungen. Außerdem kritisiert die Organisation Angriffe auf zivile Gebiete und die Energieinfrastruktur, wodurch Millionen Menschen zeitweise ohne Strom, Wasser oder Heizung waren, während winterliche Temperaturen einsetzten.
“Während des Ukraine-Krieges haben die russischen Streitkräfte entsetzliche Menschenrechtsverletzungen verübt und dabei das Leben der Zivilbevölkerung skrupellos missachtet”, sagte Julia Gorbunowa, Ukraine-Forscherin bei HRW. Es müsse sichergestellt werden, dass diese Verbrechen nicht straffrei bleiben.
Der Krieg habe weltweit im Fokus gestanden und dazu geführt, dass “alle Hebel des Menschenrechtssystems in Bewegung gesetzt” wurden. So hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen etwa eine Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine eingeleitet und Regierungen haben Sanktionen gegen Russland verhängt.
Darüber hinaus hätten europäische Länder Millionen von ukrainischen Geflüchteten aufgenommen. Im einleitenden Essay des Berichts nennt Tirana Hassan, Interim-Exekutivdirektorin von HRW, dies eine “lobenswerte Reaktion”. Sie offenbare aber auch die “Doppelmoral der meisten EU-Staaten” bezüglich der Behandlung von Asylsuchenden aus Ländern wie Afghanistan oder Syrien. So beklagt die Organisation etwa Rechtsverletzungen durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Kritik in Russland wird unterdrückt
Auch sollten sich die Regierungen fragen, wie die Situation wäre, wenn die internationale Gemeinschaft schon früher gehandelt hätte, um Russlands Präsident Wladimir Putin zur Verantwortung zu ziehen – etwa zu Beginn des Krieges in der Ostukraine im Jahr 2014 oder noch früher, angesichts von “eskalierenden Menschenrechtsverletzungen in Russland während des letzten Jahrzehnts”.
Human Rights Watch zufolge markiert die russische Invasion der Ukraine auch den Beginn einer neuen Kampagne zur Unterdrückung regierungskritischer Äußerungen in Russland. “Der Kreml zielt eindeutig darauf ab, jede öffentliche Opposition gegen den Krieg, jede Kritik an der Regierung oder jeden Ausdruck von sozialem Nonkonformismus im Keim zu ersticken”, erklärte Rachel Denber, stellvertretende Direktorin für Europa und Zentralasien bei HRW.
In Russland wurden etwa neue Gesetze eingeführt, die bei der Bezeichnung des bewaffneten Konflikts in der Ukraine als “Krieg” lange Gefängnisstrafen vorsehen. Auf friedliche Proteste gegen den Krieg hätten die Behörden mit Gewalt, Massenverhaftungen und strafrechtlichen Ermittlungen reagiert.
Humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan
Human Rights Watch beklagt auch die umfassende Missachtung der Menschenrechte durch die Taliban in Afghanistan. Seit ihrer Machtübernahme im August 2021 unterdrücken die Taliban zunehmend vor allem die Rechte von Frauen und Mädchen und die Meinungsfreiheit. Die neuen Machthaber seien mehr an der Verfolgung von Frauen und der Inhaftierung von Journalistinnen und Journalisten interessiert, “als an der Bewältigung der wirtschaftlichen und humanitären Krise in Afghanistan”, stellte Fereshta Abbasi fest, Afghanistan-Forscherin bei HRW.
Im März 2022 hatten die Taliban trotz anderslautender Versprechungen weiterführende Schulen für Mädchen nach wenigen Stunden wieder geschlossen. Proteste von Frauen wurden gewaltsam aufgelöst und Teilnehmerinnen verhaftet. Auch Medienschaffende wurden verhaftet, ebenso wie Afghanen, die im Internet Kritik an den Taliban übten. Seit Ende Dezember untersagen die Taliban Frauen auch den Zugang zu höherer Bildung.
Unter anderem durch drastische Kürzungen von Geberhilfen und steigende Preise für Lebensmittel wurde auch die Wirtschaftskrise in dem Land weiter verstärkt. Laut HRW waren mehr als 90 Prozent der Bevölkerung im gesamten vergangenen Jahr von Ernährungsunsicherheit betroffen – Millionen Kinder seien akut unterernährt. Insbesondere Frauen und Mädchen litten unter der Krise.
15 bewaffnete Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent
Die Menschenrechtsorganisation mahnt außerdem an, dass auch in Hinblick auf Äthiopien global Handlungsbedarf besteht. Im Norden des Landes war im November 2020 ein bewaffneter Konflikt zwischen der Regierung und der Volksbefreiungsfront von Tigray ausgebrochen, in dem die Kriegsparteien Gräueltaten wie Massaker verübt hätten.
Die Regierung habe den Zugang zu den vom Konflikt betroffenen Gebieten für unabhängige Ermittler und Medienschaffende eingeschränkt. Eine Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen werde dadurch erschwert. Zwar wurde im November ein Waffenstillstand vereinbart. Damit dieser aber Bestand hat, müssten diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden, die während des Krieges Verbrechen begangenen haben. HRW fordert die Afrikanische Union, die Vereinten Nationen und die USA dazu auf, Druck in diese Richtung auszuüben.
In mindestens 15 bewaffneten Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent seien Regierungstruppen oder nichtstaatliche Gruppen in Übergriffe auf Zivilisten verwickelt gewesen. Human Rights Watch fordert die Afrikanische Union auf, ein System zur Überwachung der Menschenrechte in Konfliktgebieten zu etablieren. Weitere Gräueltaten und humanitäre Katastrophen müssten verhindert werden.
Verstärktes Vorgehen gegen Kritiker
Die Menschenrechtsorganisation berichtet zudem, die Regierungen in Belarus und Vietnam seien im vergangenen Jahr verstärkt gegen kritische Stimmen vorgegangen. In Belarus etwa wurden Menschenrechtler, Medienschaffende und Oppositionelle strafrechtlich verfolgt. Auch der Friedensnobelpreisträger Ales Bialiatski sitzt weiter in Haft.
In Vietnam wurden mindestens 35 Personen zu lebenslangen Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie die Regierung kritisiert und sich für Menschenrechte, Umweltschutz oder Demokratie eingesetzt hatten. Die Arbeit von NGOs in dem Land werde von staatlicher Seite eingeschränkt.
Auch die türkische Regierung hat ihre Zensurbefugnisse vor den für Juni 2023 angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen ausgeweitet. Ein viel kritisiertes Gesetz sieht etwa Haftstrafen für die Verbreitung angeblicher Falschnachrichten vor.
“Die Regierung Erdogan ist immer schneller und immer weiter von den Menschenrechten und der Rechtsstaatlichkeit abgerückt, indem sie neue Gesetze zur Online-Zensur und Desinformation eingeführt hat, um die Medien mundtot zu machen und friedlichen Dissens zu unterdrücken”, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei HRW. Die Organisation kritisiert auch, Kritiker und Oppositionelle würden in der Türkei mit Strafverfahren drangsaliert.
Unterstützung für Proteste
HRW-Direktorin Hassan sagte: “Autokraten begründen ihre Politik mit der Illusion, dass sich Stabilität nur mit Gewalt erreichen lässt. Immer wieder zeigen jedoch mutige Demonstranten auf der ganzen Welt, dass Repression keine Abkürzung zu stabilen Verhältnissen darstellt”.
Laut HRW spiegeln die Proteste der vergangenen Monate den Frust früherer Generationen wider: Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini beispielsweise brachen im September landesweite Proteste im Iran aus. Die Menschen seien es leid, ohne Grundrechte zu leben. Auch die Proteste in China gegen die strengen Null-Covid-Maßnahmen zeigten, dass der Wunsch der Menschen nach Achtung von Menschenrechten weiter bestehe.
Regierungen, denen der Schutz der Menschenrechte wichtig ist, sollten Protestbewegungen moralisch unterstützen, auch in Ländern wie dem Sudan und Myanmar.
Human Rights Watch appelliert darüber hinaus an die internationale Gemeinschaft, die “existenzielle Bedrohung durch den Klimawandel” aus einer Menschenrechtsperspektive zu betrachten. Regierungen müssten Industrien regulieren, deren Geschäftsmodelle nicht mit dem Schutz der Grundrechte vereinbar sind, etwa in den Bereichen fossile Brennstoffe und Abholzung.
HRW-Chefin Hassan erklärte: “Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass alle Regierungen Verantwortung für den globalen Schutz der Menschenrechte tragen. Angesichts eines verschobenen Machtgefüges und neu entstehender Koalitionen und Führungsrollen haben Staaten jetzt mehr Möglichkeiten, und nicht etwa weniger, für die Menschenrechte einzutreten.” Jede Regierung sei verpflichtet, die Menschenrechte zu schützen und zu fördern. Wie bei der Reaktion auf den Krieg in der Ukraine sollten alle Regierungen den “Geist der Solidarität in die zahlreichen Menschenrechtskrisen rund um den Globus tragen” – und zwar nicht nur, wenn es unmittelbar ihren eigenen Interessen dient. (js)