Türkisches Parlament verabschiedet umstrittenes Desinformationsgesetz

Präsident Erdogan
Das neue Gesetz verschärft auch die vor zwei Jahren verabschiedeten Regeln zur Kontrolle von sozialen Medien. (Quelle: IMAGO / APAimages)

Das türkische Parlament hat ein viel kritisiertes Gesetz verabschiedet, das Haftstrafen für die Verbreitung angeblicher Falschnachrichten vorsieht. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte am Donnerstagabend für das Gesetzespaket, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete. Nichtregierungsorganisationen warnen seit Monaten vor einer weiteren Einschränkung der Meinungsfreiheit.

Das Gesetz sieht bis zu drei Jahre Gefängnis für die vorsätzliche Veröffentlichung von “Desinformationen und gefälschten Nachrichten” im Internet vor, die Angst schüren oder die Landessicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Gesundheit der türkischen Gesellschaft gefährden. Für das anonyme Veröffentlichen angeblicher Falschnachrichten sieht das Gesetz eine Erhöhung der Strafe vor.

Die Regierungsallianz der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) hatte den Gesetzentwurf Ende Mai erstmals vorgelegt. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (RSF) wurde er in der vergangenen Woche unverändert erneut ins Parlament eingebracht. Die Regierungsallianz hält dort die Mehrheit. Das Gesetz wird nun dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zur Genehmigung vorgelegt.

Die Befürworter des Gesetzes hatten argumentiert, es sei notwendig, um gegen die “Bedrohung” durch Desinformationen vorzugehen. Bereits im Sommer hatten jedoch 23 Organisationen, darunter RSF die Menschenrechtsorganisation Article 19 und der Autorenverband PEN, scharfe Kritik an dem Vorhaben geübt. In der vergangenen Woche riefen die Organisationen das türkische Parlament erneut dazu auf, gegen das Gesetz zu stimmen. Die NGOs mahnen, das Gesetz schaffe einen Rahmen für umfassende Zensur. Die Regierung könne damit öffentliche Debatten im Vorfeld der Parlamentswahlen im kommenden Jahr kontrollieren. Millionen Internetnutzerinnen und -nutzer in der Türkei würden dem Risiko von Strafverfolgung ausgesetzt.

“Schwarzer Tag” für die Meinungs- und Pressefreiheit

Janine Uhlmannsiek, Europa-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, kritisierte am Freitag: “Mit diesem Gesetz können die türkischen Behörden vor den 2023 stattfindenden Wahlen und darüber hinaus ihr systematisches Vorgehen gegen jegliche Kritik im Land noch verschärfen.” Die türkische Regierung schränke die Meinungsfreiheit mit dem “vage formulierten” Gesetz “unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Falschmeldungen” weiter ein. Sie versuche, ein Klima der Angst zu schaffen.

Güney Yildiz, Regional Researcher bei Amnesty International, sprach von einem “schwarzen Tag” für die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei.

Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften und Mitglied der türkischen Freedom of Expression Association (iFÖD), sagte der Deutschen Presse-Agentur, es werde in nächster Zeit zu vielen willkürlichen Ermittlungen und Gerichtsverfahren kommen. Er warnte: “Einige Medien werden unweigerlich Selbstzensur betreiben – die neue Verordnung kann die Nutzer sozialer Medien zum Schweigen bringen.”

Der Europarat, der über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht und dem auch die Türkei angehört, kritisierte vergangene Woche die vage Definition von “Desinformationen” in dem Gesetz. Es könne zu verstärkter Selbstzensur führen – Staaten könnten weniger einschneidende Maßnahmen ergreifen, um gegen Falschinformationen vorzugehen.

Soziale Medien müssen Nutzerdaten herausgeben

Human Rights Watch (HRW) zufolge, verpflichtet das Gesetz soziale Netzwerke auch dazu, personenbezogene Daten ihrer Nutzerinnen und Nutzer an die Behörden herauszugeben, wenn diese der “Verbreitung von Falschinformationen” verdächtigt werden. Weigern die Plattformen sich, droht ihnen eine Reduzierung der Bandbreite, sodass sie nur noch eingeschränkt genutzt werden könnten. Die Menschenrechtsorganisation warnt, diese Regelung würde die Anonymität von Nutzerinnen und Nutzern im Internet abschaffen und sie dem Risiko willkürlicher Verhaftungen aussetzen.

Im Dezember hatte Präsident Erdoğan die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie bezeichnet. Bereits vor zwei Jahren hatte die Türkei ein Gesetz zur stärkeren Regulierung sozialer Medien verabschiedet. Es verpflichtet große Plattformen unter anderem dazu, Büros in der Türkei mit einem türkischen Staatsbürger als Vertreter zu eröffnen. Das neue Gesetz verschärft diese Regeln weiter: Laut HRW haben die Unternehmen aber bisher teils nur Vertreter benannt. Nun müssten sie noch Subunternehmen in der Türkei gründen, die haftbar gemacht werden können. Auch Anbieter von Messaging-Diensten wie Signal und Telegram müssten nach den neuen Regeln eingetragene Unternehmen in der Türkei gründen. Kommen sie dem nicht nach, können die Dienste gesperrt werden.

Laut RSF sieht das Gesetz außerdem vor, die Gültigkeit des türkischen Pressegesetzes auf Online-Nachrichtenseiten auszuweiten. Hinter dieser Maßnahme vermutet die Organisation den Versuch, regierungsnahe Nachrichtenseiten mit öffentlichen Geldern zu finanzieren. Denn unter das Pressegesetz gefasste Medien können laut RSF Werbegelder der offiziellen Pressewerbeagentur Basin Ilan Kurumu (BIK) erhalten.

Auch aus der türkischen Opposition gab es Kritik. Der Abgeordnete Burak Erbay von der säkularen CHP hatte im Parlament gesagt: “Euch bleibt nur noch eine Freiheit – das Telefon in eurer Tasche.” Passiere das Gesetz das Parlament, “könnt ihr euer Telefon auch so kaputt machen”, fügte er hinzu und zerschlug ein Handy mit einem mitbrachten Hammer.

Bereits im Mai hatte die türkische Journalistengewerkschaft unter anderem kritisiert, dass Journalistenorganisationen nicht zu dem Gesetz befragt wurden. Ein solcher Dialog sei ein “grundlegendes Erfordernis der Demokratie”.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht die Türkei nur auf Rang 149 von 180 Staaten. Die einst pluralistische Medienlandschaft steht der Organisation zufolge inzwischen fast vollständig unter Kontrolle der Regierung oder regierungsnaher Geschäftsleute. HRW berichtet, die sozialen Netzwerke seien einer der letzten Bereiche, in denen die Menschen in der Türkei noch Zugang zu unabhängigen Informationen hätten und sich relativ frei äußern könnten. Die Regierung versuche nun, auch diesen Raum zu schließen. (dpa / js)