Indien will Kommunikationsüberwachung ausbauen
Ein neuer Gesetzentwurf des Kommunikationsministeriums (DoT) in Indien sieht vor, dass Regierung und Behörden internetbasierte Telekommunikationsdienste weitreichend überwachen, kontrollieren und auch sperren dürfen.
Die Behörden sollen durch das neue Telekommunikationsgesetz per Anordnung jegliche laufende Kommunikation, egal ob Videogespräche oder Messengernachrichten, einsehen, blockieren und ganze Telekommunikationsnetzwerke unter ihre Kontrolle bringen dürfen. Der Entwurf setzt sogenannte Over-the-Top-Anwendungen (OTT) per Definition mit klassischen Telekommunikationsdiensten wie dem Telefonnetz gleich. Damit fielen diese Dienste unter eine deutlich rigidere Regulierung – und es würde mehr staatliche Kontrolle möglich, etwa durch Lizenzvergaben.
So soll auch Kommunikation in Anwendungen wie WhatsApp, Signal oder Skype abgefangen werden dürfen. Dem steht Verschlüsselung der Dienste entgegen. Ob die Anbieter zum Brechen der Verschlüsselung gezwungen werden sollen, geht aus dem Entwurf nicht hervor.
Die vorgeschlagenen Regeln sollen etwa in Fällen eines “öffentlichen Notstands” zum Einsatz kommen – oder wenn Behörden die öffentliche Sicherheit bedroht sehen. Dann könne angewiesen werden, dass “jede Nachricht […] an oder von einer Person oder Klasse von Personen, die durch Telekommunikationsdienste empfangen wird, nicht übermittelt oder abgefangen oder festgehalten oder dem in einer solchen Anordnung genannten Beamten offengelegt werden darf.”
Zudem sollen die Kommunikationsdienste dazu verpflichtet werden, Daten zur Identifikation ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu speichern und Behörden Zugang zu ihrer Infrastruktur zu gewähren. Nutzer müssen bei Angabe falscher Informationen mit Strafen von bis zu 50.000 Indischen Rupien (rund 620 Euro) und Sperren rechnen, schreibt die Nachrichtenseite The Hindu.
Internetaktivisten, Stimmen aus der Zivilgesellschaft und ein parlamentarischer Ausschuss hatten im Vorhinein Bedenken über solche Bestimmungen geäußert. Sie sehen die Meinungsfreiheit bedroht.
Minister wiegelt ab
Die Bürgerrechtsorganisation Access Now kritisierte vergangene Woche, das DoT gefährde mit seinen Plänen zwei entscheidende Aspekte eines sicheren und offenen Internets – verschlüsselte Kommunikation und ungehinderten Zugang zum Internet. “Indiens Entwurf eines Telekommunikationsgesetzes ist ein weiterer Angriff auf die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und die Grundrechte und -freiheiten der Menschen”, sagte Namrata Maheshwari, Asienexpertin bei Access Now.
Verschlüsselung sei auch für den Schutz demokratischer Prinzipien entscheidend. Sie dürfe durch neue Gesetze weder aufgehoben, geschwächt oder umgangen werden. “Der Gesetzentwurf enthält Bestimmungen, die die Grundrechte untergraben”, schrieb die Organisation.
Telekommunikationsminister Ashwini Vaishnaw versuchte indessen zu beschwichtigen: Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag sagte er, die Regierung sähe nur eine “leichte Regulierung” für Kommunikations-Apps vor. “Von einer Entschlüsselung kann keine Rede sein”, sagte der Minister.
Die Regierung werde mit den betroffenen Interessengruppen sprechen, bevor sie den endgültigen Gesetzesentwurf verfasse.
Internetsperren
Auch gesteht der Gesetzentwurf der Regierung das Recht zu, Internet- beziehungsweise Kommunikationssperren zu verhängen. Auch hierfür sind die Voraussetzungen weit und unpräzise gefasst. Die Sperren könnten bestimmte Kommunikationswege (“class of communications”) betreffen, Personen oder Personengruppen oder bestimmte Themen. Auch sollen die Regierung oder Behörden die Kontrolle über Telekommunikationsdienste, -netze oder -infrastruktur übernehmen können.
Zuletzt spricht der Entwurf den Regierenden noch das Recht zu, “jede andere Maßnahme zu ergreifen, die die Zentralregierung im Interesse der nationalen Sicherheit für zweckmäßig hält im Interesse der nationalen Sicherheit”.
In der zusätzlich veröffentlichten Begründung des Gesetzentwurfs heißt es: “Der Gesetzentwurf bietet der Zentralregierung einen Rahmen, mit dem sie alle Situationen des öffentlichen Notfalls, der öffentlichen Sicherheit oder der nationalen Sicherheit angehen kann. Diese Bestimmungen sehen die zeitlich begrenzte Aussetzung der Übertragung von Nachrichten oder der Bereitstellung von Telekommunikationsnetzen oder -diensten vor, während die Rechte der Bürger Indiens gewahrt bleiben.”
Die in der Begründung erwähnte Einschränkung auf eine “zeitlich begrenzte Aussetzung” findet sich in dem Entwurf aber nicht wieder.
Felicia Anthonio, Kampagnen-Organisatorin bei Access Now warnte: “Die Annahme des neuen Gesetzes ist eine eklatante Missachtung der von Menschenrechtsgruppen geäußerten Bedenken hinsichtlich der Zunahme von Internetsperren in Indien und wird die Behörden nur ermutigen, diese rechtsverletzende Praxis ungestraft fortzusetzen.” Abschaltungen seien niemals zu rechtfertigen und stellten einen “eklatanten Angriff auf die Menschenrechte” dar, einschließlich der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Information und Versammlungsfreiheit.
Internetsperren wie sonst nirgends
Die indische Regierung versucht unter dem rechtsnationalistischen Premierminister Narendra Modi bereits seit Jahren, das Internet im Land immer weiter zu kontrollieren: Im Jahr 2021 war Indien mit 106 Sperren das vierte Jahr in Folge das Land mit den meisten Internetabschaltungen. Von der Regierung angeführte Gründe waren unter anderem die Eindämmung von Protesten oder Verhinderung von Betrug, so die Bürgerrechtsorganisation Access Now. Unter anderem sollten Bauernproteste gegen eine Agrarreform unterdrückt werden, indem die Kommunikation zwischen den Demonstrierenden und die Berichterstattung der Presse über das Netz verhindert wurde. 85 der 106 Sperren betrafen die Unionsterritorien Jammu und Kaschmir.
Internetabschaltungen verhängt die Regierung gemäß der 2017 verabschiedeten "Temporary Suspension of Telecom Services Rules". Demnach dürfen die Behörden im Falle eines “öffentlichen Notfalls” oder bei Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit Telekommunikationsdienste temporär blockieren. Fünf Tage nach Einsetzen einer Sperre muss die Zentralregierung aber einen Prüfungsausschuss bilden, der die Maßnahmen überprüft.
Der Oberste Gerichtshof hatte im Januar 2020 Kritik an Internetabschaltungen geäußert. Die Richter mahnten, die Maßnahmen dürften nur vorübergehend sein und müssten regelmäßig überprüft werden.
VPN-Dienste verdrängt
Ende Mai wurde bereits eine Anordnung verabschiedet, die alle im Land tätigen VPN-Dienst-Anbieter dazu verpflichtet, detaillierte Daten zu ihren Kundinnen und Kunden mindestens fünf Jahre lang zu speichern. Das für die Sicherheit des Internets im Land zuständige Indian Computer Emergency Response Team (CERT-In) hatte angeordnet, dass unter anderem Namen, IP-Adressen und Wohnadressen gespeichert werden müssen.
VPN-Dienste werden unter anderem dazu genutzt, staatliche Sperren und Zensur im Internet zu umgehen. Amnesty International warf der Regierung damals Zensur und einen Angriff auf die freie Meinungsäußerung vor.
Der IT-Nachrichtenseite Wired zufolge bieten viele VPN-Anbieter ihre Dienste inzwischen nicht mehr in dem Land an. 2020 nutzten 45 Prozent der Einwohner Indiens VPN-Dienste. Danach waren die Nutzerzahlen noch einmal massiv angestiegen. Laut einer Analyse des Anbieters Atlas VPN wurden im ersten Halbjahr 2021 fast 349 Millionen neue VPNs eingerichtet; im selben Zeitraum des Vorjahres waren es noch rund 45 Millionen Neueinrichtungen. Der Anbieter sah den Grund für das Wachstum vor allem in den ständigen Internetsperren und -einschränkungen der Regierung.
Laut der Wirtschaftsnachrichtenseite mint wird erwartet, dass das neue Telekommunikationsgesetz in sechs bis zehn Monaten in Kraft tritt. Minister Vaishnaw erklärte aber, die Regierung habe es nicht eilig bei der Umsetzung. (hcz)