Studie: Fast jeder zweite Gletscher bei 1,5 Grad Erwärmung verloren
Eine neue Studie bestätigt: Die Gletscherschmelze ist nicht mehr zu stoppen. Die am Freitag im Fachjournal “Science” veröffentlichte Untersuchung zeigt, dass selbst im günstigsten Fall ein großer Teil der Gletscher weltweit verschwinden wird.
Demnach werden fast 50 Prozent der rund 215.000 berücksichtigten Gletscher bis zum Jahr 2100 schmelzen – selbst wenn die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden sollte. Nur sofortige Maßnahmen zum Klimaschutz könnten den Prozess laut Autorinnen und Autoren noch verlangsamen.
Mit den Berechnungen bestätigte das internationale Team um David Rounce von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh bisherige Erkenntnisse zum Ausmaß der Gletscherschmelze. Viele Prozesse bestimmen, wie Gletscher an Masse verlieren. Die nun verwendeten Berechnungsmodelle seien “mit einer noch nie dagewesenen Menge an Daten kalibriert” worden. Sie berücksichtigten individuelle Beobachtungen der Massenänderung jedes Gletschers und die Eigenheiten verschiedener Arten von Gletschern – wie etwa Gezeiten- und Schuttgletscher.
Bei 2 Grad 70 Prozent weg
Der Studie zufolge steht das Schmelzen der Gletscher in linearem Zusammenhang mit dem durchschnittlichen globalen Temperaturanstieg. Der prognostizierte Eisverlust bis zum Jahr 2100 reiche von knapp 39 Billionen Tonnen bis zu mehr als 64 Billionen Tonnen – abhängig davon, wie viel Öl, Gas und Kohle noch verbrannt werden und wie hoch die Erderwärmung ausfallen wird.
Kleinere Gletscher sollen besonders stark betroffen sein bis hin zum Totalverlust. Bei einem Temperaturanstieg um 2 Grad – könnten knapp 70 Prozent der Gletscher bis zu einer Größe von einem Quadratkilometer verschwinden. Etwa 80 Prozent der Gletscher weltweit zählen zu dieser Kategorie, unter anderem die der europäischen Alpen, im westlichen Kanada, den Vereinigten Staaten sowie Neuseeland.
Größere Gletscher und dichter vergletscherte Regionen in der Arktis und Antarktis werden sich den Prognosen zufolge widerstandsfähiger zeigen, aber ebenso schmelzen – und zum Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Komplett abschmelzen würden bei 2 Grad Erderwärmung fast 20 Prozent der Gletscher zwischen einem und zehn Quadratkilometern.
Deutschen Gletscher sind verloren
Die deutschen Gletscher sind nach Eisens Worten nicht mehr zu retten: “Das Thema ist durch.” Im vergangenen Jahr sei mit dem Südlichen Schneeferner ein Gletscher weggeschmolzen, somit gebe es in Deutschland nur noch vier. “Die wird das gleiche Schicksal ereilen”, sagte Glaziologe Olaf Eisen vom Alfred-Wegener-Institut, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung. Die Studie bestätige Erkenntnisse, die teils aus vorherigen Untersuchungen schon bekannt waren.
Wie schnell die Schmelze in Deutschland vorangehe, hänge lediglich von den Temperaturen in den kommenden Wintern ab. “Wenn wir solche Winter kriegen wie 2020 oder 2021, als es im Frühjahr kalt und nass war, dann werden sie vielleicht noch ein Jahrzehnt länger halten, aber die deutschen Gletscher werden 2050 vermutlich nicht erreichen”, so Eisen.
Antriebe des Meeresspiegelanstiegs
Bei einem durchschnittlichen globalen Temperaturanstieg von vier Grad würden der Studie zufolge 83 Prozent aller Gletscher weltweit bis 2100 verschwinden. Das hätte dramatische Folgen.
Denn das Schmelzen der Gletscher lässt den Meeresspiegel ansteigen. “Jeder Millimeter mehr Meeresspiegelanstieg führt zu mehr Überschwemmungen an den Küstengebieten, und die Gletscher sind eben einer der Hauptantriebe des Meeresspiegelanstiegs”, sagte Fabien Maussion von der Universität Innsbruck, Co-Autor der Studie. Im besten Fall würde das schmelzende Eis den Meeresspiegel um 90 Millimeter anheben, im schlimmsten Fall um 166 Millimeter.
Der Untersuchung zufolge könnten Gletscher bei einer Erderwärmung von 1,5 bis 2 Grad einen um 14 bis 23 Prozent größeren Gesamtbeitrag zum Anstieg des Meeresspiegels leisten, als frühere Studien festgestellt haben.
Die Erkenntnisse des Forscherteams reihten sich ein in eine Kette von neueren Klimaforschungsergebnissen, die immer extremere Auswirkungen schon bei niedrigeren Erwärmungsniveaus feststellten, schrieb die Washington Post am Donnerstag. Die untersuchten Temperaturniveaus lägen schon recht nahe an den bereits herrschenden Temperaturen.
Gletscher als Süßwasserquelle
Die Studie beschreibt auch die Rolle der Gletscher als natürliche Süßwasserspeicher. “Wenn sie weg sind, heißt es zwar nicht, dass wir kein Wasser mehr haben, aber dass das Wasser nicht mehr dann kommt, wenn es benötigt wird – nämlich in trockenen, heißen Sommermonaten”, erklärte Matthias Huss von der ETH Zürich, ebenso Co-Autor der Studie.
Wenn das Eis weg ist, sei vor allem in Dürrephasen mit Wasserknappheit zu rechnen. “Das ist ein Problem für Bewässerung, Trinkwasser, Warentransport, Fauna und Flora und so weiter”, so Huss.
Solche Probleme zeigten sich beispielsweise im Himalaya-Gebirge, wo die Wasserversorgung der Bewohner je nach Saison zu 60 Prozent aus der Schnee- und Gletscherschmelze stammen. Eine im Juli 2019 veröffentlichte Studie beschrieb, wie der Klimawandel diesen Effekt abschwächen und möglicherweise starke Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion haben wird. Schnee- und Gletscherschmelze allein lieferten demnach weltweit genug Wasser für den Anbau von Nahrungsmitteln, um 38 Millionen Menschen ausgewogen zu ernähren.
Sofortiges Handeln würde helfen
Trotzdem unterstreicht das Team um Rounce: Es sei durchaus möglich, die Schmelze durch sofortige und umfassende Klimaschutz-Maßnahmen auf globaler Skala mittelfristig zu verlangsamen. “Auch wenn wir die Gletscher nicht so retten können, wie sie aktuell aussehen, bewirkt jedes Zehntelgrad eingesparter Erwärmung einen geringeren Rückgang und damit auch geringere negative Auswirkungen”, so Huss.
Mitautor Rounce beschreibt die Gletscher als extrem langsam fließende Flüsse: Die Art und Weise, wie Gletscher auf Klimaveränderungen reagieren, dauere sehr lange. Eine Verringerung der heutigen Emissionen würde weder die zuvor emittierten Treibhausgase beseitigen, noch könne sie den Klimawandel sofort aufhalten. Das bedeute, dass sich selbst ein vollständiger Emissionsstopp erst nach 30 bis 100 Jahre beim Massenverlust der Gletscher bemerkbar machen würde. (Quelle: aus PM)
Dennoch: “Wir brauchen einen kompletten Wechselkurs, was unsere Emissionen angeht, wir müssen die globalen Emissionen wirklich deutlich stärker reduzieren”, unterstrich Maussion. (dpa / hcz)