Türkei beschließt umstrittenes Zensurgesetz
In der Türkei werden Twitter, Facebook und andere soziale Medien zukünftig einer schärferen Kontrolle unterzogen. Das türkische Parlament hat am Mittwoch ein stark umstrittenes Gesetz verabschiedet. Es verpflichtet Plattformen mit mehr als einer Million Nutzern in der Türkei pro Tag unter anderm dazu, Niederlassungen in der Türkei mit einem türkischen Staatsbürger als Vertreter zu eröffnen, wie die Nachrichtenagentur Anadolu berichtet.
Anbieter müssen zudem innerhalb von 48 Stunden auf Anfragen zur Löschung oder Änderung bestimmter Inhalte reagieren. Halten sie sich nicht an diese Regeln, drohen hohe Geldstrafen und Einschränkungen der Dienste im Land.
Özlem Zengin, stellvertretende AKP-Fraktionsvorsitzende, sagte am Dienstag zu dem Entwurf: “Wir haben das Ziel, die Beleidigung, die Beschimpfungen in den sozialen Medien und die Belästigungen, die durch dieses Medium gemacht werden, zu beenden.” Bereits im Voraus wurde das Gesetz jedoch scharf kritisiert.
“Kommt nicht in die Türkei”
Verstießen Inhalte im Netz gegen in der Türkei geltende Regeln, drohten den künftigen Vertretern im Land Strafanzeigen, sagte etwa der Internetexperte Yaman Akdeniz der Deutschen Presse-Agentur. Bereits jetzt gebe es starke Einschränkungen Im Netz. Weil viele Anbieter aktuell keinen Sitz im Land hätten, seien Pflichten wie das Speichern von Nutzerdaten bisher einfach umgangen worden. Akdeniz appellierte an die Anbieter: “Kommt unter den gegebenen Umständen nicht in die Türkei.”
Türkische Medien stehen zum Großteil unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierung. In den vergangenen Jahren wurde auch die Kontrolle über Inhalte im Internet immer weiter verstärkt. Große Portale wie YouTube wurden zensiert. Momentan sind rund 408.000 Webseiten und 130.000 Webadressen gesperrt. Bis Januar war beispielsweise Wikipedia zwei Jahre lang in der Türkei nicht zugänglich.
Erdogan fürchtet Kritik
Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) verurteilte das Gesetz im Vorhinein in einer Stellungnahme. Ziel der Regierung Erdogan sei es, nun auch die sozialen Medien zu kontrollieren. Sie seien der einzige Ort, wo Journalistinnen und Journalisten noch vergleichsweise frei berichten können.
Der türkische Präsident war zuletzt vor allem auf Social-Media-Plattformen harsch für sein Coronavirus-Management kritisiert worden. “Präsident Erdogan ist politisch geschwächt, deshalb will er internationale Plattformen national kontrollieren, um seine Kritiker im Internet zum Schweigen zu bringen”, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. Es sei eindeutig, dass eine Kontrolle der Social-Media-Plattformen darauf abzielt, die wachsenden politischen Unruhen einzudämmen.
Laut ROG geht es Präsident Recep Tayyip Erdogan darum, die 37 Millionen Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer und 16 Millionen Menschen auf Twitter, die es in der Türkei gibt, unter Kontrolle zu bringen. Das nun reformierte “Gesetz gegen Internetverbrechen” ist seit 2007 in Kraft. Es wurde laut ROG bereits in der ursprünglichen Version dazu ausgenutzt, um unabhängige Online-Medien zum Schweigen zu bringen. Das Gesetz stellt unter anderem Beleidigungen und angebliche Bedrohungen der nationalen Sicherheit unter Strafe. Bereits im September 2019 hatte es eine Gesetzesreform gegeben, die digitale Medien unter die Kontrolle des Hohen Rundfunkrates (RTÜK) und dessen Zensurmaßnahmen stellte.
“Ein Gesetz der Selbstzensur”
“Social Media ist eine Lebensader für viele Menschen, die damit auf Nachrichten zugreifen. Dieses Gesetz läutet daher eine neue dunkle Ära der Online-Zensur ein”, kommentierte Tom Porteous von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch das Gesetz. Die Betreiber der sozialen Netzwerke und die EU sollten die Türkei “lautstark und eindeutig” auffordern, das Gesetz fallen zu lassen.
Gökhan Ahi von der Bilgi Universität kritisierte den Entwurf gegenüber der türkischen Nachrichtenseite Bianet als “hart und unangemessen”. “Ein paar kleine Änderungen würden ausreichen, um das System besser funktionieren zu lassen”, sagte Ahi, “Mit diesem Gesetz soll die Kritik im Internet und in den sozialen Medien [an der Regierung] reduziert und schnell auf die Identität von Benutzern mit einem anonymen Konto zugegriffen werden.” Ahi nannte den damaligen Entwurf “ein Gesetz der Selbstzensur”.
Deutsches Gesetz als Vorbild
Laut Ahi habe sich die Diskussion in der Türkei auch immer wieder auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) bezogen, das hierzulande 2018 in Kraft trat. “Nun passiert auch in der Türkei genau das, wovor wir von Anfang an gewarnt haben: Autoritäre Regime erlassen Gesetze zur Kontrolle von Social-Media-Plattformen und berufen sich dabei unter anderem auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz”, kritisiert ROG-Geschäftsführer Christian Mihr.
Auch die autoritären Regierungen von Singapur und Russland beriefen sich auf das deutsche NetzDG bei der Einschränkung der Internetfreiheit. (dpa / hcz)