Tunesien: Behörden gehen mit Dekret zu Internetkriminalität gegen Journalisten vor

Schild bei einem Protest für Pressefreiheit
Menschenrechtsorganisationen zufolge hat die tunesische Regierung im Jahr 2024 auch ihr Vorgehen gegen zivilgesellschaftliche Organisationen verstärkt. (Quelle: IMAGO / ZUMA Press Wire)

Die tunesische Regierung geht zunehmend gegen Medienschaffende vor. Häufig werden sie wegen angeblichen Verstößen gegen das Dekret zur Bekämpfung von Internetkriminalität verhaftet, berichtete das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) Ende vergangener Woche. Zahlen der Organisation zufolge, befanden sich in dem nordafrikanischen Land zum Stichtag 1. Dezember 2024 mindestens fünf Medienschaffende in Haft – die höchste Zahl, seit die NGO im Jahr 1992 mit ihren Aufzeichnungen begonnen hat.

Vier der aktuell in Tunesien inhaftierten Journalistinnen und Journalisten wurden wegen angeblicher Verstöße gegen das umstrittene Dekret 54 verurteilt, berichtet das CPJ. Grundlage der Anklage seien jeweils Beiträge oder Kommentare in den sozialen Netzwerken gewesen.

Tunesische Medienschaffende seien der Auffassung, dass die Regierung das Dekret gezielt einsetzt, um investigativen und kritischen Journalismus zu unterdrücken. Aus Angst vor Strafverfolgung würden viele von ihnen inzwischen Selbstzensur üben.

Ziad Debbar von der tunesischen Journalistengewerkschaft SNJT sagte: “Das Dekret 54 macht jeden Journalisten zum Verdächtigen.” Medienschaffende könnten jederzeit von den Behörden zu einem Verhör wegen ihrer Online-Veröffentlichungen vorgeladen werden.

Lofti Hajji von der SNJT erklärte gegenüber dem CPJ, das Dekret werde übermäßig gegen Journalisten, Blogger und politische Kommentatoren angewendet. Das habe bereits zu einem “massiven Rückgang” von politischen Fernseh- und Radiosendungen geführt, die früher eingehende Analysen zu aktuellen politischen Themen gesendet hätten. Hajji fügte hinzu, auch über das Dekret selbst werde kaum berichtet – aus Angst vor einer Anklage.

Fünf Jahre Haft für angebliche Falschnachrichten

Das Dekret 54 zur “Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationssystemen” stellt unter anderem die Verbreitung angeblicher Falschnachrichten unter Strafe: Es drohen bis zu fünf Jahre Haft und eine Geldbuße. Der zunehmend autoritär regierende tunesische Präsident Kais Saied hatte das Dekret im Jahr 2022 erlassen.

Laut CPJ hatten die tunesischen Behörden ihr Vorgehen gegen Medienschaffende insbesondere im Vorfeld der Wahlen im vergangenen Jahr verstärkt – und bekannte Journalistinnen und Journalisten festgenommen und angeklagt. So wurde beispielsweise die Anwältin Sonia Dahmani, die auch als politische Kommentatorin arbeitet, wegen angeblicher Verbreitung von Falschnachrichten zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Strafe wurde später zwar auf acht Monate reduziert, laut CPJ wurde sie aber abermals auf Grundlage des Dekrets angeklagt und zu zwei weiteren Jahren Haft verurteilt.

Dahmani war unter anderem in einer populären Sendung des privaten Radiosenders IFM aufgetreten. Auch die Moderatoren dieser Sendung, Mourad Zghidi und Borhen Bsaies, wurden am selben Tag wie Dahmani verhaftet. Amnesty International hatte im vergangenen Jahr unter Berufung auf Polizeiunterlagen berichtet, Zghidi sei unter anderem zu Beiträgen in den sozialen Netzwerken befragt worden, in denen er Präsident Saied kritisiert hatte – unter anderem, nachdem ein Investigativjournalist wegen seiner Berichterstattung zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war. Bei dem Verhör sei es außerdem um kritische Äußerungen gegangen, die er in seiner Sendung getätigt hatte.

Laut CPJ wurden beide Journalisten wegen angeblicher Verstöße gegen das Dekret zu je einem Jahr Haft verurteilt. Gegen die Medienschaffenden liefen aktuell außerdem weitere Anklagen.

Die Organisation kritisiert, früher hätte das tunesische Presserecht die Arbeit von Journalisten geschützt. Doch inzwischen werde dieses nicht mehr durchgesetzt und auch die in der Verfassung verankerte Meinungsfreiheit werde nicht mehr geachtet. Auch die Behörde für Medienaufsicht habe ihre Arbeit einstellen müssen.

Scharfe Kritik bei Erlass

Mehrere NGOs hatten das Dekret 54 bereits im Jahr 2022 scharf kritisiert und vor Einschränkungen der Pressefreiheit gewarnt. So sei beispielsweise nicht definiert, was als Gerücht oder Falschnachricht zählt. Die NGOs hatten schon damals befürchtet, die Begriffe könnten von den Behörden weit ausgelegt werden, um Medienschaffende, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker strafrechtlich zu verfolgen.

Human Rights Watch (HRW) hatte Ende 2023 kritisiert, seit Erlass sei das Dekret dazu genutzt worden, Kritiker einzuschüchtern. Die Organisation hatte damals über die ersten Verurteilungen auf Basis des Dekrets berichtet.

Seit Jahren warnen NGOs, die demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahre seien in Tunesien zunehmend gefährdet und es drohe eine Rückkehr zum autoritären System. So wurde im Juli 2022 per Referendum eine umstrittene neue Verfassung angenommen, die nahezu alle Macht in die Hände des Präsidenten legt – er kann etwa Richter und Minister ernennen und entlassen. Offiziellen Angaben zufolge lag die Wahlbeteiligung am Referendum nur bei 30 Prozent – die Opposition hatte damals zum Boykott der Abstimmung aufgerufen.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes kontrolliert die Regierung seit Ende 2024 auch verstärkt soziale Netzwerke, um “unmoralische Inhalte” zu ahnden. Davon seien insbesondere die Plattformen Instagram und TikTok betroffen.

In der vergangenen Woche berichtete HRW, die tunesische Regierung habe im Jahr 2024 ihr Vorgehen gegen kritische Stimmen weiter verschärft. Mitglieder von Zivilgesellschaft und Medien, die die Politik des Präsidenten kritisiert haben, würden ins Visier genommen. Mit Stand November waren laut HRW mehr als 80 Personen aus politischen Gründen oder wegen Ausübung ihrer Rechte inhaftiert. Darunter seien Oppositionelle, Anwälte, Medienschaffende und Menschenrechtler – sowie gewöhnliche Nutzer sozialer Netzwerke.

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen war in Tunesien nach der Revolution von 2011 eine vielfältige Medienlandschaft entstanden. Doch die Organisation kritisiert, bereits seit der Wahl im Jahr 2019 habe sich das Klima im Land deutlich verschlechtert. Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt das Land Rang 118 von 180 Staaten. (js)