Afghanistan unter den Taliban: "Menschenrechtlicher Albtraum"

Verschleierte Frauen auf einem Markt in Kabul
UN-Menschenrechtlern zufolge gab es in den vergangenen Jahren nirgends auf der Welt einen so weitreichenden Angriff auf Frauenrechte wie in Afghanistan. (Quelle: IMAGO / Le Pictorium)

Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat sich die Situation der Menschen im Land weiter verschlechtert. Insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen wurden beschnitten, kritisieren mehrere Menschenrechtsorganisationen. Sie appellieren auch an Regierungen, der afghanischen Bevölkerung zu helfen.

“Die Menschen in Afghanistan erleben unter der Herrschaft der Taliban einen humanitären und menschenrechtlichen Albtraum”, konstatierte Fereshta Abbasi, Afghanistan-Expertin bei Human Rights Watch (HRW).

Nach Angaben der Organisation hat sich die Lage in Afghanistan zu einer der schlimmsten humanitären Krisen weltweit entwickelt. Mehr als 28 Millionen Menschen benötigen demnach dringend humanitäre Hilfe – das sind zwei Drittel der gesamten Bevölkerung. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge sind etwa vier Millionen Menschen im Land unterernährt.

HRW erklärte, neben Faktoren wie jahrzehntelangem Krieg und Extremwetterereignissen, sei die massive Einschränkung von Frauenrechten eine der Hauptursachen für die Ernährungsunsicherheit. Denn zahlreiche Frauen hätten in der Folge ihre Arbeitsplätze verloren.

Nach ihrer Machtübernahme hatten die Taliban beispielsweise noch erklärt, Schulen für Mädchen offenzuhalten.

Theresa Bergmann, Asien-Expertin bei Amnesty International in Deutschland, sagte: “Zwei Jahre später zeigt sich deutlich: Das sind nichts als leere Versprechungen. Die Taliban haben die Rechte von Mädchen und Frauen in nahezu allen Lebensbereichen sukzessive und systematisch abgeschafft.”

51 Dekrete gegen Frauenrechte

Laut der Organisation Pro Asyl haben die Taliban inzwischen 51 Dekrete verabschiedet, mit denen die Rechte von Frauen eingeschränkt werden. So hatten die Taliban im März 2022 beispielsweise weiterführende Schulen für Mädchen nach nur wenigen Stunden wieder geschlossen – Mädchen dürfen seitdem die Schule ab der siebten Klasse nicht mehr besuchen. Amnesty International kritisiert, das gelte in keinem anderen Land der Welt. Berichten zufolge solle in einigen Provinzen Mädchen der Schulbesuch sogar ab dem zehnten Lebensjahr verboten werden. Auch der Zugang zu Universitäten wurde verwehrt.

“Die Antwort der Taliban auf die überwältigende humanitäre Krise in Afghanistan ist eine immer stärkere Unterdrückung der Rechte von Frauen und jeglicher abweichender Meinungen.” Fereshta Abbasi, HRW

Frauen können sich in der Öffentlichkeit zudem nicht mehr ohne Begleitung eines ihnen nahestehenden Mannes bewegen. Auch Parks, Sporteinrichtungen und Cafés dürfen sie nicht mehr besuchen. Erst kürzlich hatten die Taliban zudem die Schließung von Schönheitssalons bis Ende August angekündigt. Pro Asyl erklärt, dadurch würden auch die letzten geschützten Orte für Frauen verschwinden. Etwa 50.000 Frauen würden zudem ihre Arbeit und damit Einkommensquelle verlieren – in einem Land, in dem es für sie fast keine legalen Verdienstmöglichkeiten mehr gebe.

“Die frauenfeindliche Politik der Taliban zeigt sich in ihrer völligen Missachtung der Grundrechte von Frauen”, sagte Fereshta Abbasi von HRW. “Ihre Politik und ihre Restriktionen schaden nicht nur den Menschenrechtsaktivistinnen im Land, sondern auch ganz gewöhnlichen Frauen, die ein normales Leben führen wollen.”

In einem Bericht hatten Menschenrechtsexpertinnen und -experten der Vereinten Nationen im Juni festgestellt: “Die Rechte von Frauen und Mädchen wurden in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern und Regionen beschnitten, aber nirgendwo sonst auf der Welt gab es einen so weitreichenden, systematischen und allumfassenden Angriff auf die Rechte von Frauen und Mädchen wie in Afghanistan.”

Keine kritische Berichterstattung möglich

Human Rights Watch beklagt auch eine umfassende Zensur der Medien: Niemand im Land könne kritisch berichten, ohne willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen fürchten zu müssen. Reporter ohne Grenzen (RSF) berichtet von Drohungen gegen Medienschaffende und Verhaftungen.

Seit August 2021 sei die Medienlandschaft Afghanistans deutlich geschrumpft – Frauen fehlten darin weitgehend. Mehr als 80 Prozent der afghanischen Journalistinnen mussten laut RSF seit der Machtübernahme durch die Taliban ihre Arbeit aufgeben. Von den rund 12.000 Medienschaffenden, die 2021 noch in Afghanistan gearbeitet hatten, hätten mehr als zwei Drittel ihren Beruf inzwischen aufgegeben.

Außerdem habe mehr als die Hälfte der 547 Medien, die 2021 im Land registriert waren, den Betrieb eingestellt. Erst Anfang August hatten die lokalen Behörden in der Provinz Nangarhar die Räume des Radio- und Fernsehsenders Hamisha Bahar geschlossen.

Die verbliebenen Medien arbeiteten unter schwierigen und gefährlichen Bedingungen. Wer im Land weiter journalistisch tätig ist, müsse sich an die Regeln der Taliban halten. “Wir Journalisten fühlen uns durch die Festnahmen und die Schikanen, denen wir ausgesetzt sind, verängstigt, niedergeschlagen und verzweifelt und zensieren uns selbst”, erklärte ein Fernsehreporter aus Kabul gegenüber RSF. Und eine Fernsehjournalistin, die ebenfalls in der Hauptstadt arbeitet, berichtete RSF: “Es wird jeden Tag schlimmer. Mir wurde wiederholt das Recht verweigert, über Ereignisse zu berichten, nur weil ich eine Frau bin.”

RSF-Geschäftsführer Christian Mihr sagte: “Die Lage der Pressefreiheit in Afghanistan ist erschütternd. Doch die Widerstandsfähigkeit afghanischer Journalistinnen und Journalisten macht Mut. Sie kämpfen im In- und Ausland dafür, weiter unabhängig über die Lage vor Ort berichten zu können.”

Beh Lih Yi vom Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) erklärte, durch die Unterdrückung der Medien werde Afghanistan während einer humanitären Krise vom Rest der Welt isoliert. “Der Zugang zu verlässlichen und vertrauenswürdigen Informationen kann in einer Krise helfen, Leben und Lebensgrundlagen zu retten, aber die eskalierende Unterdrückung der Medien durch die Taliban bewirkt das Gegenteil.”

Tausende Afghanen verharren in Drittländern

Die Taliban unterdrücken auch Menschenrechtler, Aktivisten, ehemalige Ortskräfte, Mitarbeitende der früheren Regierung und Angehörige ethnischer sowie religiöser Minderheiten. Laut Amnesty International sind etwa willkürliche Verhaftungen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen vielerorts an der Tagesordnung.

Doch auch die Lage der Afghaninnen und Afghanen, die aus dem Land fliehen konnten, ist häufig prekär: Tausende halten sich in Drittländern wie Pakistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Iran und der Türkei auf und viele von ihnen leben laut Menschenrechtsorganisationen unter katastrophalen Bedingungen. Etwa 1,6 Millionen Menschen sind seit der Machtübernahme durch die Taliban geflohen.

Amnesty International und RSF kritisieren in diesem Zusammenhang auch das sogenannte Bundesaufnahmeprogramm: Die Bundesregierung wollte jeden Monat 1000 gefährdete Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland holen. Bisher sei unter dieser Initiative aber niemand nach Deutschland gelangt. Die Bearbeitung von Visaanträgen in der deutschen Botschaft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad gehe nach der Wiederaufnahme des zwischenzeitlich komplett gestoppten Programms nur langsam voran. Amnesty fordert eine zügigere Bearbeitung der Anträge. Medienberichten zufolge warteten Ende Mai mehr als 14.000 Menschen mit Aufnahmezusage noch auf Visum und Ausreise.

Fereshta Abbasi von HRW forderte: “Die Antwort der Taliban auf die überwältigende humanitäre Krise in Afghanistan ist eine immer stärkere Unterdrückung der Rechte von Frauen und jeglicher abweichender Meinungen. Die Regierungen, die mit den Taliban verhandeln, sollten sie drängen, ihren Kurs dringend zu ändern und grundlegende Rechte aller Menschen in Afghanistan zu respektieren. Gleichzeitig sollten sie der afghanischen Bevölkerung lebenswichtige Hilfe leisten.” (js)