Fast die Hälfte der afghanischen Medien geschlossen
Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich die Medienlandschaft in Afghanistan “radikal verändert”: Über 200 Medien haben ihren Betrieb inzwischen eingestellt, berichtet Reporter ohne Grenzen (RSF). Gemeinsam mit der Afghan Independent Journalists Association hat die Organisation zwischen dem 15. November und dem 8. Dezember Daten in Afghanistan erhoben.
Demnach waren im vergangenen Sommer noch über 500 verschiedene Medien in Afghanistan aktiv. Ende November waren es hingegen nur noch 312. Innerhalb von nur drei Monaten seien 43 Prozent der afghanischen Medien verschwunden, resümiert RSF.
Vor der Machtübernahme der Taliban habe es in den meisten afghanischen Provinzen mindestens zehn private Medien gegeben – nun gebe es in einigen Regionen gar keine Sender und Zeitungen mehr. In der drittgrößten Stadt des Landes, Herat, und der umliegenden Provinz seien beispielsweise nur noch 18 von vormals 51 Medienunternehmen übrig. Besonders viele hatte es in der Region Kabul gegeben: Dort hatte RSF 148 Medienunternehmen gezählt, bevor die Taliban an die Macht kamen. Mehr als die Hälfte davon (51 Prozent) habe inzwischen aufgegeben.
Medienschaffende können nicht mehr arbeiten
RSF berichtet, dies habe direkte Auswirkungen auf die Menschen, die im Mediensektor arbeiten: Anfang August habe es in Afghanistan noch 10.790 Medienmitarbeitende gegeben, nun seien es nur noch 4360. Besonders Frauen sind betroffen: Vier von fünf (84 Prozent) haben seit der Machtübernahme ihren Arbeitsplatz verloren.
In 15 der 34 Provinzen Afghanistans gebe es überhaupt keine Journalistinnen mehr. In der nördlichen Provinz Jowzjan hätten zuvor beispielsweise noch 112 Journalistinnen gearbeitet. Von den dort noch aktiven Medien beschäftige kein einziges mehr Frauen.
RSF berichtet, die Taliban belegten die lokalen Medien mit Regeln – dazu zähle auch, keine Frauen zu beschäftigen. Auch in Kabul gebe es nur noch 320 Frauen, die als Journalistinnen oder in anderen Positionen bei Medien arbeiten. Anfang August seien es noch über 1000 gewesen. In der Provinz Balch hätte die stabile Lage in den vergangenen Jahren zur Entwicklung von Medienunternehmen geführt, die auch Frauen beschäftigt hatten. Doch auch hier ging die Zahl der Journalistinnen und Medienmitarbeiterinnen um 98 Prozent zurück. Die Fortschritte der letzten 20 Jahre seien innerhalb weniger Tage durch die Taliban zunichte gemacht worden, urteilt RSF.
Die Organisation hatte bereits im September berichtet, wie die Taliban Frauen aus der Medienlandschaft vertreiben. Etwa, indem sie Journalistinnen nach Hause schicken, bedrohen oder gewalttätig an ihrer Arbeit hindern.
Reza Moini, Leiter der Iran-Afghanistan-Abteilung von RSF forderte: “Es ist dringend notwendig, die Spirale, die unweigerlich zum Verschwinden der afghanischen Medien führt, zu stoppen und dafür zu sorgen, dass die Achtung der Pressefreiheit Priorität hat.”
Die Lage für Medienschaffende in Afghanistan sei “extrem angespannt”. So hatten die Taliban Ende September ihre “Elf Regeln für den Journalismus” vorgestellt. RSF kritisiert diese als gefährlich: Sie könnten zur Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten genutzt werden und ebneten den Weg für Zensur. So müssen Journalisten beispielsweise eine Erlaubnis vom Informations- und Kulturministerium einholen, bevor sie über ein Thema berichten können – und ihre Berichte vor Veröffentlichung freigeben lassen.
Einige Lokalradios hätten ihren Betrieb eingestellt, nachdem sie gezwungen wurden, ihre Nachrichten- und Musikprogramme durch religiöse Inhalte zu ersetzen.
Human Rights Watch hatte im November berichtet, die Taliban hätten Journalisten gezwungen, von ihnen gewünschte Berichte und Interviews zu veröffentlichen. Viele Medien hätten aus Angst ihre Büros geschlossen und arbeiteten nur noch online. Die Menschenrechtsorganisation kritisierte, die Taliban versuchten, jegliche Kritik an ihrer Herrschaft zum Schweigen zu bringen.
Nach Angaben von RSF leiden die Medienbetriebe auch unter der wirtschaftlichen Lage. Etwa, weil viele nationale und internationale Fördermittelzahlungen mit der Machtübernahme der Taliban eingestellt wurden. Werbeeinnahmen seien ebenfalls eingebrochen.
Menschenrechtslage verschlechtert sich
Hojatollah Mujadadi, Geschäftsführer der Afghan Independent Journalists Association, mahnte: “Abgesehen von den Zahlen sind die Schließung von fast der Hälfte der Medien des Landes und der Verlust von mehr als 6000 Arbeitsplätzen eine Katastrophe für die Pressefreiheit. Wenn die internationalen Institutionen den Journalisten und Medien in Afghanistan nicht helfen und die Regierung keine dringenden Maßnahmen ergreift, wird die andere Hälfte der Medien und Journalisten, die immer noch unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten, das gleiche Schicksal erleiden.”
RSF und Menschenrechtsorganisationen hatten in den vergangenen Monaten wiederholt über die Situation der afghanischen Bevölkerung berichtet: So hatte RSF Gewalt gegen Journalisten dokumentiert. Im September hatte Amnesty International von gezielten Menschenrechtsverletzungen berichtet und erst Anfang Dezember auf die bedrohliche Lage der Frauen aufmerksam gemacht.
RSF führt Afghanistan auf der Rangliste der Pressefreiheit noch auf Platz 122 von 180 Staaten – die Liste wurde allerdings vor der Machtübernahme durch die Taliban veröffentlicht. (js)