Großbritannien: Polizei in Essex führt Echtzeit-Gesichtserkennung ein
Die Polizei in der Grafschaft Essex beabsichtigt, Live-Gesichtserkennung dauerhaft einzusetzen. Zuvor hatte die Behörde die Technik bereits im Einsatz getestet. Anfang des Jahres hatte die damalige Regierung Investitionen in Millionenhöhe in Gesichtserkennungssysteme angekündigt – und damit bei Bürgerrechtlern für Kritik gesorgt.
Bei der Live-Gesichtserkennung erfassen Kameras alle vorbeilaufenden Personen. Die Aufnahmen werden automatisiert mit einer Liste von Gesuchten abgeglichen. Bei einem vermeintlichen Treffer werden die Beamten informiert und müssen über das weitere Vorgehen vor Ort entscheiden. Die britische Datenschutzbehörde ICO hatte im Jahr 2021 darauf hingewiesen, dass dabei potenziell massenhaft biometrische Daten erfasst werden können. Diese gelten als besonders sensibel, weil sie sich nicht einfach verändern lassen und Menschen ein Leben lang darüber identifiziert werden können.
In Essex sollen die Kameras an gekennzeichneten Polizeifahrzeugen angebracht und so im öffentlichen Raum verwendet werden. Solche Einheiten kommen in Großbritannien beispielsweise in London bereits seit längerem zum Einsatz.
Die Polizei in der Grafschaft will mit der Technik gesuchte Personen aufspüren, sagte Chief Constable Ben-Julian Harrington gegenüber der BBC. Zum Einsatz käme das System ausschließlich bei “wirklich schweren Verbrechen”.
Laut Harrington entscheide bei einem Treffer ein Polizeibeamter, ob eine Person festgenommen werde oder nicht. Daten von nicht gesuchten Personen soll das System unmittelbar nach dem Datenbank-Abgleich automatisch löschen.
Kritik von Bürgerrechtlern
Im vergangenen Jahr hatte die Behörde die Technik in Essex bereits im öffentlichen Raum getestet. Nun soll sie bis Ende des Jahres in den Regelbetrieb übergehen, wie Harrington der BBC sagte. Bisher werde bereits ein Gesichtserkennungssystem verwendet, bei dem nachträglich Bilder von Überwachungskameras mit einer Polizeidatenbank abgeglichen werden.
Die britische Bürgerrechtsorganisation Big Brother Watch verglich den Einsatz von Live-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum mit einer “digitalen Gegenüberstellung” bei der Polizei. Die Technik sei “gefährlich ungenau” und stelle eine ernsthafte Bedrohung für Privatsphäre und bürgerliche Freiheiten dar.
Kritiker haben wiederholt bemängelt, dass Gesichtserkennung unzuverlässig sei. In London hatten etwa Wissenschaftler der Universität Essex die Testphase bei der Polizei begleitet und dem System im Anschluss eine Fehlerquote von 81 Prozent bescheinigt.
Mangelnde Rechtsgrundlage
Die Wissenschaftler hatten zudem darauf hingewiesen, dass es keine Rechtsgrundlage für den Einsatz von Gesichtserkennungssystemen gebe.
Anfang 2024 hatte auch das “Justice and Home Affairs Committee” des Parlaments festgestellt, dass keine klare Rechtsgrundlage für den Einsatz von Echtzeit-Gesichtserkennung existiere. Zwar könne es ein wertvolles Instrument für die Polizei sein, das Komitee sei aber besorgt, dass der Einsatz der Technik ohne angemessene Kontrolle und Rechenschaftspflicht ausgeweitet werde. Es stelle sich die Frage, warum Großbritannien und andere demokratische Staaten bei der Regulierung der Technologie so unterschiedlich vorgehen.
Die im Juli 2024 abgewählte britische Regierung wollte den Einsatz von Gesichtserkennung jedoch ausweiten: Schon im Herbst 2023 hatte der damals für die Polizei zuständige Minister Chris Philp die Polizei aufgefordert, Live-Gesichtserkennung in größerem Umfang einzusetzen.
Im April hatte die damalige Regierung dann angekündigt, umgerechnet mehr als 64 Millionen Euro in Gesichtserkennungssysteme zu investieren. Ein Teil des Geldes soll auch für “mobile Einheiten” bestimmt sein, die in Einkaufsstraßen eingesetzt werden können.
Big Brother Watch kritisiert Echtzeit-Gesichtserkennung als ein “dystopisches Instrument zur Massenüberwachung”. Die Investitionspläne seien eine Verschwendung öffentlicher Gelder.
Klage gegen Polizei
Die Bürgerrechtsorganisation unterstützt aktuell auch zwei Klagen wegen falscher Identifizierung durch Gesichtserkennung – eine davon richtet sich gegen die Londoner Polizei.
In diesem Fall wurde ein 38-Jähriger auf dem Nachhauseweg vom Gesichtserkennungssystem der Polizei fälschlicherweise als gesuchte Person identifiziert. Die Beamten hätten ihn daraufhin fast eine halbe Stunde lang festgehalten und ihm mit Verhaftung gedroht – obwohl sich der Betroffene ausweisen konnte.
Bei der zweiten Klage geht es um den Einsatz der umstrittenen Technik durch Einzelhändler.
Silkie Carlo, Direktorin von Big Brother Watch und Mitklägerin gegen die Londoner Polizei, hatte bei Klageeinreichung kritisiert: “Gesichtserkennung ist ungenau und gerät im Vereinigten Königreich gefährlich außer Kontrolle. Keine andere Demokratie der Welt spioniert ihre Bevölkerung mit Live-Gesichtserkennung so unbekümmert und beängstigend aus wie das Vereinigte Königreich.” (js)