Indien: Internet in Manipur seit mehr als 100 Tagen gesperrt
Bereits Anfang Mai wurde das mobile Internet im indischen Bundesstaat Manipur abgeschaltet. Die Behörden hatten die Blockade mit dem Ausbruch von Protesten und teils gewalttätigen Unruhen begründet. Mehrere NGOs fordern ein Ende der Netzsperre und kritisieren, diese habe immense Auswirkungen auf die Menschen in der Region.
In einem offenen Brief kritisieren unter anderem Access Now sowie die indischen Organisationen Internet Freedom Foundation und Software Freedom Law Center die Internetsperren als Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit. Laut den NGOs kommen dadurch auch verübte Gräueltaten nicht an die Öffentlichkeit – Berichten zufolge sind bei den Unruhen in Manipur bisher mindestens 180 Menschen getötet und mehr als 60.000 vertrieben worden.
Auslöser für die Proteste war eine Gerichtsentscheidung, die einer Bevölkerungsgruppe einen Sonderstatus zugesprochen hatte, der unter anderem feste Anteile an staatlichen Arbeitsstellen garantiert. Vorwiegend christliche Gruppen hatten dagegen protestiert und wurden Berichten zufolge angegriffen – seitdem kommt es zu Gewalt zwischen den Bevölkerungsgruppen. Als Reaktion auf die Vorkommnisse wurden auch Soldaten in den Bundesstaat verlegt und am 3. Mai zunächst das mobile Internet in ganz Manipur blockiert; einen Tag später auch Festnetzanschlüsse.
Wenige Lockerungen
Ende Juli hatten die Behörden zwar die Blockade von Festnetzverbindungen wieder aufgehoben – Internetverbindungen via Mobilfunk sind jedoch weiterhin gesperrt. Die Internet Freedom Foundation kritisiert, dass nur sehr wenige Menschen in Indien überhaupt Zugang zu einem Festnetzanschluss haben. Zudem müssten die Festnetzanbieter soziale Medien und VPN-Dienste blockieren.
In dem offenen Brief heißt es, die Auswirkungen der Netzsperre seien “immens und unumkehrbar”. Solche Maßnahmen würden weder Gewalt noch Hassrede eindämmen, sondern könnten sogar dazu beitragen, dass Spannungen zunehmen.
Netzsperre verhindert Informationsfluss
Die NGOs kritisieren, viele Gewalttaten in Manipur seien aufgrund der Netzsperre nicht bekannt geworden – darunter Morde, Vergewaltigungen und Brandstiftungen. Insbesondere Frauen seien häufig Opfer der Gewalt. Ohne Internetzugang werde auch die Berichterstattung erschwert und Täter könnten sich leichter der Verantwortung für begangene Menschenrechtsverletzungen entziehen. Erst als im Juli ein gewalttätiges Video aus Manipur in den sozialen Medien aufgetaucht war, habe dies ein Schlaglicht auf die Gewalt in Manipur geworfen. Der indische Premierminister Narendra Modi sei dadurch dazu gebracht worden, sich zu dem Konflikt in Manipur zu äußern. Die Opposition warf Modi sogar vor, nicht genug gegen den Konflikt zu unternehmen und stellte einen Misstrauensantrag – ohne Erfolg.
Durch die anhaltenden Einschränkungen würden außerdem die Grundrechte verletzt. Auch die Menschenrechtskommission von Manipur habe angesichts der Auswirkungen auf das Recht auf freie Meinungsäußerung die Aufhebung der Blockade im Juni 2023 empfohlen.
Namrata Maheshwari von Access Now erklärte: “Internetabschaltungen verletzen die Menschenrechte und tragen dazu bei, dass Menschenrechtsverletzungen andauern. Auf allen behördlichen Ebenen in Indien trennen die Regierenden die Menschen ständig – und ungestraft – von der digitalen Welt ab. Diese Tirade der Zensur und Kontrolle muss ein Ende haben. Der Zugang zu einem offenen, sicheren und freien Internet sollte für jeden Einzelnen möglich sein.”
Laut der Internet Freedom Foundation ist die Anordnung für die Netzsperre zudem rechtswidrig, weil kein Enddatum enthalten sei. Nach einem Urteil des Obersten Gerichtshofs Indiens dürfen Netzsperren nicht unbefristet erlassen werden.
Längste Blockade in Indien
In den vergangenen Jahren hat weltweit kein anderes Land so oft von der umstrittenen Maßnahme Gebrauch gemacht, wie Indien. 2022 hatte Access Now 84 Internetsperren in dem Land dokumentiert. Anlass waren unter anderem Proteste, öffentliche Gewalt, aber auch stattfindende Schulprüfungen. Nach Angaben der Internet Freedom Foundation handelt es sich bei den Einschränkungen in Manipur bislang um die längste Netzsperre in Indien in diesem Jahr.
Human Rights Watch hatte in einem Bericht im Juni gezeigt, dass besonders arme Menschen in Indien von den Einschränkungen betroffen sind. Mit der fortschreitenden Digitalisierung werde der Zugang zum Internet immer wichtiger für die Verwirklichung der Rechte auf soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Arbeit und das Recht auf Nahrung.
Auch UN-Menschenrechtler haben in der Vergangenheit kritisiert, dass Internetsperren sich stets auf viele Menschen auswirken und zu “enormen Kollateralschäden” führen. Dabei werde direkt die Sicherheit und das Wohlergehen von Menschen gefährdet, weil sie ohne Kommunikationsmöglichkeiten beispielsweise nicht vor Gefahren gewarnt werden können. Aus Sicht der Expertinnen und Experten ist eine Blockade des Internets nur sehr selten verhältnismäßig.
Die NGOs fordern die indischen Behörden in ihrem offenen Brief auf, keine Internetsperren mehr zu verhängen – insbesondere zu Krisenzeiten müsse davon Abstand genommen werden. Es handle sich um einen Trend, der gefährlich für die Menschenrechte und die digitale Entwicklung des Landes sei. (js)