Mehr Journalisten im Gefängnis als je zuvor
In diesem Jahr waren so viele Medienschaffende inhaftiert wie nie zuvor. Das geht aus der neuen Jahresbilanz der Pressefreiheit hervor, die Reporter ohne Grenzen (RSF) am heutigen Mittwoch veröffentlicht hat. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg von rund 13 Prozent – schon damals hatte die Organisation einen neuen Rekordwert vermeldet.
Zum Stichtag am 1. Dezember 2022 saßen demnach weltweit mindestens 533 Medienschaffende wegen ihrer Arbeit im Gefängnis. Mehr als die Hälfte von ihnen ist in nur fünf Ländern eingesperrt: China, Myanmar, Iran, Vietnam und Belarus.
China führt die Liste mit 110 Inhaftierten erneut an – Hongkong inbegriffen. Reporter ohne Grenzen bezeichnet China als “größtes Gefängnis für Medienschaffende weltweit”.
Gemessen an der Bevölkerungsgröße sind laut Jahresbilanz in Myanmar (62) “mit Abstand” die meisten Medienschaffenden inhaftiert. Journalismus sei dort inzwischen faktisch eine Straftat, wie die große Zahl der nach dem Militärputsch im Jahr 2021 verbotenen Medien zeige.
Neu an der Spitze dieser Länder ist der Iran: Nach dem Ausbruch der landesweiten Proteste im September sitzen dort laut RSF 47 Journalistinnen und Journalisten im Gefängnis.
In Vietnam hat sich die Zahl der inhaftierten Medienschaffenden innerhalb von fünf Jahren auf 39 verdoppelt. In Belarus wurden in den vergangenen zwei Jahren nach Angaben von RSF mehr als 500 Journalisten festgenommen – 31 befinden sich weiterhin in Haft.
Aber auch in Russland greife das Regime seit dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hart durch: Mindestens 18 Medienschaffende sind in dem Land derzeit inhaftiert, darunter auch acht aus der Ukraine. Die meisten im Land verbliebenen Journalisten seien aufgrund drakonischer Strafen gezwungen, im Untergrund zu arbeiten. Denn bei Verbreitung angeblich falscher Informationen über die russische Armee drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Gefängnis ohne Prozess
RSF-Vorstandssprecherin Katja Gloger kommentierte: “Die Rekordzahl inhaftierter Medienschaffender zeigt, dass autoritäre Regime verstärkt dazu übergehen, unliebsame Journalistinnen und Journalisten einfach wegzusperren. In den meisten Fällen machen sie sich nicht einmal die Mühe, sie vor Gericht zu bringen.”
Nach Angaben von RSF wurde nur etwas mehr als ein Drittel der weltweit inhaftierten Medienschaffenden auch verurteilt. Über 60 Prozent säßen ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis – manche warteten bereits seit mehr als 20 Jahren auf ihren Prozess.
Auch bei der Zahl der inhaftierten Journalistinnen gibt es einen neuen Negativrekord: Weltweit sitzen aktuell 78 Frauen im Zusammenhang mit ihrer journalistischen Arbeit im Gefängnis, die meisten von ihnen in China (19). Noch nie seit Beginn der Erfassung von RSF im Jahr 1995 waren so viele weibliche Medienschaffende inhaftiert.
Auch im Iran sind aktuell 18 Frauen wegen ihrer journalistischen Arbeit inhaftiert. Darunter Narges Mohammadi, die Gewinnerin des RSF Press Freedom Awards 2022 in der Kategorie Mut. Besonders besorgniserregend sind laut RSF die Schicksale von Nilufar Hamedi und Elahe Mohammadi. Sie wurden im September verhaftet, weil sie als erste Medienschaffende über den Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini berichtet hatten. Sie sind nun wegen “Propaganda gegen das System und Verschwörung gegen die nationale Sicherheit” angeklagt, worauf die Todesstrafe steht.
Amerikanischer Doppelkontinent am gefährlichsten
Im Jahr 2022 wurden 57 Medienschaffende im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg von fast 19 Prozent. Damals hatte die Zahl so niedrig gelegen wie seit fast 20 Jahren nicht mehr.
Einer der Gründe für den erneuten Anstieg ist die russische Invasion in die Ukraine. Dort kamen acht Medienschaffende ums Leben – die Ukraine ist somit nun das zweitgefährlichste Land für Journalistinnen und Journalisten.
Die Mehrzahl (64,9 Prozent) der Getöteten kam jedoch außerhalb von Kriegsgebieten ums Leben. Zum vierten Mal in Folge ist Mexiko das gefährlichste Land für Medienschaffende: Dort wurden mindestens elf Journalisten getötet – im Vorjahr waren es noch sieben. Die Organisation kritisiert auch, in dem nordamerikanischen Land würden immer wieder Medienschaffende sterben, obwohl sie bereits unter staatlichem Schutz stehen. So auch Lourdes Maldonado López, die im Januar vor ihrem Haus im Bundesstaat Baja California erschossen wurde.
Der amerikanische Doppelkontinent ist laut RSF auch insgesamt die gefährlichste Region für Journalistinnen und Journalisten: Fast die Hälfte aller getöteten Medienschaffenden kam dort ums Leben. So wurden etwa in Haiti sechs Reporter von bewaffneten Banden ermordet, nachdem dort im Vorjahr keine Morde verzeichnet wurden. In Brasilien wurden drei Medienschaffende umgebracht.
Wegen Berichterstattung ermordet
Auch in den USA registrierte RSF zum ersten Mal seit 2018 einen Fall: Der Reporter Jeff German wurde im September vor seinem Haus niedergestochen. Er hatte für das Las Vegas Review-Journal über organisierte Kriminalität, Korruption und Lokalpolitik berichtet. In dem Fall ist ein lokaler Verwaltungsbeamter wegen Mordes angeklagt, über dessen Fehlverhalten German geschrieben hatte.
Fast 80 Prozent der im Jahr 2022 getöteten Medienschaffenden wurden aufgrund ihres Berufs oder ihrer Berichterstattung gezielt ermordet, so RSF. Organisiertes Verbrechen und Korruption gehören dabei zu den gefährlichsten Themengebieten. Wegen ihrer Berichterstattung zu diesen Themen wurden in diesem Jahr 25 Medienschaffende umgebracht. Außerdem wurden vier getötet, die zu Landraub durch Großkonzerne und Abholzung recherchiert hatten.
Weltweit gelten derzeit mindestens 65 Medienschaffende als entführt. Diese Zahl hat sich gegenüber dem Vorjahr nicht verändert. Nahezu alle Fälle konzentrieren sich auf Syrien (42), den Irak und den Jemen (jeweils 11). Die einzige Ausnahme ist der französische Journalist Olivier Dubois, der im April 2021 in Mali entführt wurde. Er ist einer von vier ausländischen Journalisten, die sich weltweit in Geiselhaft befinden.
Die Jahresbilanz der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen erscheint seit 1995. Die Zahlen beziehen sich stets auf den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. Dezember eines Jahres. RSF zählt nur Fälle, bei denen die Organisation verifizieren konnte, dass diese mit der journalistischen Tätigkeit der Opfer zusammenhängen. In die Statistik gehen neben professionellen Journalisten auch Bürgerjournalisten sowie Mitarbeiter wie Kamera- oder Tontechniker ein. (js)