Russland: Eingeschränkte Pressefreiheit vor der Wahl

Präsident Putin spricht mit Journalisten
Die Organisation kritisiert die Vielzahl an neuen Gesetzen, die internationalen Menschenrechtsnormen widersprechen, die auch Russland ratifiziert hat. (Quelle: IMAGO / ITAR-TASS)

Am 19. September wird in Russland ein neues Parlament gewählt. Im Vorfeld hat die Staatsführung die Presse- und Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt, wie der neue Bericht “Alles unter Kontrolle?” der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) zeigt. So mussten weitere Nachrichtenseiten ihre Arbeit einstellen – und es gab etliche Festnahmen von Medienschaffenden.

Das russische Parlament habe seit Beginn der Corona-Pandemie eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, berichtet RSF. Viele von ihnen schränkten sowohl die Pressefreiheit als auch die freie Meinungsäußerung im Internet ein – und widersprächen somit der russischen Verfassung und internationalen Menschenrechtsnormen. RSF kritisiert schwammige und weitreichende Formulierungen, durch die sich unliebsame Berichterstattung ebenso wie offene Diskussionen in den sozialen Netzwerken verhindern lassen.

“Ausländische Agenten”

So wurde beispielsweise die sogenannte Agentengesetzgebung drastisch verschärft. Ursprünglich war diese auf in Russland politisch tätige Organisationen bezogen, die Geld aus dem Ausland erhalten und sich deshalb in ein staatliches Register eintragen lassen müssen. Dann kamen Medien hinzu; seit Ende 2020 können beliebige Gruppierungen und Einzelpersonen darunter fallen. Für die Betroffenen bedeute dies erhebliche behördliche Schikanen und eine gesellschaftliche Stigmatisierung.

Als “politische Tätigkeit” zählen beispielsweise bereits Meinungsumfragen. Und die Einladung einer ausländischen Stiftung mit Reisekostenerstattung reicht aus, um offiziell “Finanzielle Unterstützung aus dem Ausland” zu erhalten. Die Juristin Swetlana Kusewanowa vom “Zentrum zum Schutz der Rechte von Massenmedien” sagte RSF, theoretisch könnten bereits Werbeeinnahmen über Plattformen wie YouTube zu einer Einstufung als “ausländischer Agent” führen.

Betroffene müssen regelmäßig detaillierte Rechenschafts- und Finanzberichte einreichen. RSF kritisiert den damit verbundenen bürokratischen Aufwand, den insbesondere Einzelpersonen kaum leisten könnten. Beiträge müssen außerdem mit einem vorformulierten Text gekennzeichnet werden, dessen Schrift doppelt so groß gehalten sein muss wie die des restlichen Textes. Die bei Verstößen gegen diese Regelungen vorgesehenen Strafen wurden Ende 2020 erhöht: Es drohen Geldbußen von umgerechnet bis zu 54.100 Euro und bis zu fünf Jahre Haft.

Seit Dezember 2020 habe sich die Zahl der Einträge im entsprechenden Register nahezu vervierfacht: Ende August gab es 43 Einträge. Die Hälfte sei erst in den vergangenen Monaten hinzugekommen. Darunter Meduza, das reichweitenstärkste unabhängige Nachrichtenportal in russischer Sprache. Im Juli wurde außerdem die investigative Nachrichtenseite The Insider als “ausländische Agentin” eingestuft. Sie hatte Ende 2020 gemeinsam mit internationalen Medien die Namen der Geheimdienstmitarbeiter veröffentlicht, die an der Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny beteiligt gewesen sein sollen. Auch einzelne Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtler und Aktivisten stehen auf der Liste.

Galina Arapowa, Juristin und Direktorin des “Zentrums zum Schutz der Rechte von Massenmedien” sagte RSF: “Diese Gesetze wurden aus einem einfachen Grund erlassen: um vor der Parlamentswahl im September kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und besonders im Internet zivilgesellschaftliche Diskussionen zu unterdrücken.”

Online-Medien müssen aufgeben

Nach Angaben von RSF haben in den vergangenen Monaten mindestens fünf kremlkritische Online-Medien ihre Arbeit eingestellt: Die Nachrichtenseite VTimes beispielsweise gab im Juni auf, nachdem sie in das Register aufgenommen wurde. Als Grund wurden strafrechtliche Risiken für die Mitarbeitenden genannt. Das Investigativportal Projekt Media löste sich auf, nachdem es Mitte Juli zur “unerwünschten Organisation” erklärt wurde.

Porträt von Roman Dobrochotow
Bei einer Hausdurchsuchung zog die Polizei den Reisepass von Roman Dobrochotow, Chefredakteur von The Insider, ein. (Quelle: IMAGO / ITAR-TASS)

Investigativ arbeitende Medienschaffende stünden besonders im Visier der Behörden: So wurden Ende Juni die Wohnungen mehrerer Redaktionsmitglieder von Projekt Media durchsucht. Sie hatten einen Bericht über den Reichtum der Familie von Innenminister Wladimir Kolokolzew veröffentlicht. Auch die Wohnung von Roman Dobrochotow, Gründer und Chefredakteur von The Insider, wurde durchsucht. Dabei wurden nicht nur Computer und Telefone beschlagnahmt, sondern auch sein Reisepass eingezogen. Das komme einer Ausreisesperre gleich, urteilt RSF.

Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Gewalt

Zudem sei es wiederholt zu Festnahmen von Medienschaffenden gekommen, beispielsweise während der Proteste für den inhaftierten Kreml-Gegner Alexej Nawalny Anfang des Jahres. Einige Journalistinnen und Journalisten hätten in diesem Zusammenhang auch “präventive Hausbesuche” erhalten, bei denen die Sicherheitskräfte sie davor warnten, von den Demonstrationen zu berichten. Andere Medienschaffende wurden verhaftet, weil sie angeblich zu nicht genehmigten Demonstrationen aufgerufen haben sollen.

Auch kam es zu Gewalt gegen Medienschaffende: Der Menschenrechtsorganisation Agora zufolge wurden 2020 fast doppelt so viele Menschen wegen ihrer Äußerungen im Internet gewalttätig angegriffen oder bedroht wie in den Jahren zuvor. In vielen Fällen traf dies unabhängige Journalistinnen und Journalisten.

Nach Ansicht von RSF bedrohen weitere Gesetzesverschärfungen die Meinungs- und Medienfreiheit: Seit Ende 2020 wurden beispielsweise wieder Haftstrafen für den Tatbestand der Verleumdung eingeführt. Wer in den Medien – oder generell im Internet – vermeintlich verleumderische Informationen veröffentlicht, kann mit zwei Jahren Gefängnis bestraft werden. Betreffen die Vorwürfe “schwere Straftaten”, wie beispielsweise Korruption, drohen sogar fünf Jahre Haft.

Wachsende Selbstzensur

Auch die Strafen für die Verbreitung angeblicher Falschinformationen wurden erhöht und können nun umgerechnet bis zu 115.800 Euro betragen – schlimmstenfalls drohen sogar Haftstrafen. Während der Corona-Pandemie hätten sich viele solcher Verfahren gegen Medienschaffende und Aktivisten gerichtet. Die Juristin Kusewanowa sagte RSF, mit dem Gesetz ließe sich jede Position verbieten, die von der offiziellen abweiche.

Sie kritisierte, die Regelungen würden “Gummiparagraphen” enthalten, die sich “beliebig anwenden lassen”. Entsprechende Gesetze würden “am laufenden Band verabschiedet” und es bleibe unklar, ob sie später auch angewendet würden. Die Menschen seien eingeschüchtert: “Die Selbstzensur wächst.”

Auch auf internationale soziale Netzwerke wächst der Druck: Plattformen mit mehr als einer halben Million täglicher russischer Nutzerinnen und Nutzer müssen nun Niederlassungen in Russland eröffnen. Außerdem verhängen Gerichte Geldstrafen, wenn die Betreiber als verboten geltende Inhalte nicht löschen – aber auch, wenn sie Inhalte staatsnaher Medien sperren, beispielsweise wegen Desinformationen.

Die ausländischen sozialen Netzwerke sind nach dem Fernsehen die zweitwichtigste Quelle, aus der sich die Bevölkerung über politische Nachrichten informiert. Auch für Journalistinnen und Journalisten sind sie daher wichtig, um ihr Publikum zu erreichen.

Unabhängige Medien wichtig für die Wahl

Anlässlich der bevorstehenden Wahl kritisierte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr: “Ohne unabhängige Medien, die über die gesellschaftliche Realität in Russland berichten, verliert die Wahl ihren Sinn. Wenn über politische Alternativen und gesellschaftliche Probleme nicht berichtet und öffentlich diskutiert werden darf, bestätigt jede vermeintliche Abstimmung nur die verzerrte Wahrnehmung der Herrschenden – den Willen des Volkes bildet sie nicht ab.” Er fordert Staaten zum Handeln auf: “Die Regierungen demokratischer Staaten müssen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in ihren künftigen Beziehungen mit Russland vehement verteidigen.”

Russland solle die Einstufung von Medienschaffenden als “ausländische Agenten” zurücknehmen und Journalisten freilassen, die wegen ihrer Äußerungen im Internet inhaftiert sind. Gesetze, die die Meinungs- und Medienfreiheit einschränken, müssten aufgehoben werden. Die Organisation appelliert zudem an internationale Plattformen, sich dem Druck nicht zu beugen und die Meinungsfreiheit sowie die Privatsphäre ihrer Nutzerinnen und Nutzer in Russland zu schützen.

Der 56-seitige Bericht ist eine aktualisierte Fassung des ursprünglich im November 2019 erschienen Länderberichts von RSF. Die Organisation betrachtet darin den Zeitraum zwischen den letzten Regionalwahlen im Jahr 2019 und der nun anstehenden Wahl fürs Parlament.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF steht Russland auf Platz 150 von 180 Staaten – hinter Ländern wie Pakistan oder Mexiko. (js)