Amnesty International: Sprunghafter Anstieg der weltweiten Hinrichtungen

Amnesty-Protest gegen die Todesstrafe
Im Jahr 2022 haben sechs Länder die Todesstrafe vollständig oder teilweise abgeschafft.(Quelle: IMAGO / Pacific Press Agency)

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat im Jahr 2022 mindestens 883 Hinrichtungen in 20 Ländern dokumentiert. Das ist die höchste Zahl seit dem Jahr 2017, heißt es im am Dienstag erschienenen Jahresbericht der Organisation zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe. Hinzu kommt eine vermutlich hohe Dunkelziffer, weil unter anderem aus China keine Informationen vorliegen. Amnesty geht aber davon aus, dass in China mehr Menschen hingerichtet werden als in jedem anderen Land der Welt.

Die Zahl der weltweit dokumentierten Exekutionen ist laut Bericht um knapp 53 Prozent gegenüber dem Jahr 2021 gestiegen. Im Vorjahr hatte die Organisation noch 579 Hinrichtungen gezählt. Hauptverantwortlich für den Anstieg sind der Iran und Saudi-Arabien. Gemeinsam mit Ägypten sind diese Länder für 90 Prozent aller weltweit registrierten Hinrichtungen verantwortlich.

Im Iran verzeichnete Amnesty International im vergangenen Jahr 576 staatliche Tötungen – ein Anstieg um 83 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insbesondere Hinrichtungen wegen Mordes und Drogendelikten hätten in dem Land zugenommen.

Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, erklärte: “Wir beobachten derzeit eine beispiellose Welle an Hinrichtungen im Iran.” Die iranische Justiz habe auch mindestens vier Menschen im Zusammenhang mit den im September 2022 ausgebrochenen Protesten töten lassen. Das UN-Menschenrechtsbüro geht davon aus, dass im Jahr 2023 bereits 209 Menschen im Iran exekutiert wurden.

81 Menschen an einem Tag hingerichtet

In Saudi-Arabien verdreifachte sich die Zahl der vollstreckten Todesurteile auf 196 – der höchste Wert, den Amnesty dort seit 30 Jahren verzeichnet hat. Auch wurden in Saudi-Arabien erneut Menschen wegen Drogendelikten getötet, nachdem ein Hinrichtungsmoratorium für diese Delikte im vergangenen Jahr ausgelaufen war.

Laut Amnesty International haben die Exekutionen in dem Land im zweiten Jahr in Folge “in alarmierendem Maße zugenommen”. Im März 2022 hatten die dortigen Behörden an einem einzigen Tag bei einer Massenhinrichtung Todesurteile an 81 Menschen vollstreckt.

Unter den weltweit 883 exekutierten Menschen waren auch 13 Frauen: zwölf wurden im Iran getötet, eine in Saudi-Arabien.

Amnesty International kritisiert, in beiden Staaten würden Menschen routinemäßig nach unfairen Gerichtsverfahren hingerichtet.

Wenngleich in Ägypten nach dem Iran und Saudi-Arabien die meisten Menschen hingerichtet wurden, gingen die Zahlen dort deutlich zurück: von 83 im Jahr 2021 auf 24 im vergangenen Jahr.

Chinesisches Staatsgeheimnis

In den von Amnesty International veröffentlichten Zahlen fehlt allerdings China, weil die Regierung Angaben zur Todesstrafe als Staatsgeheimnis behandelt. Die verfügbaren Informationen deuteten jedoch darauf hin, dass in China jedes Jahr Tausende Menschen hingerichtet und zum Tode verurteilt werden – und damit mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Geheimhaltung und andere restriktive Praktiken führen auch dazu, dass keine Zahlen aus Nordkorea und Vietnam verfügbar sind. Die Organisation geht jedoch davon aus, dass die Todesstrafe in beiden Ländern ebenfalls “in großem Umfang” angewandt wird.

Grafik: Weltweite Hinrichtungen
Weltweite Hinrichtungen (2013-2022) (Quelle: Amnesty International)

In fünf Staaten wurde die Todesstrafe 2022 nach mehrjährigen Pausen erstmals wieder vollstreckt: So wurde in Afghanistan erstmals seit dem Jahr 2018 wieder hingerichtet – es lägen aber nicht genügend Informationen vor, um eine Mindestzahl zu nennen. In Kuwait (7 Exekutionen) wurden erstmals seit dem Jahr 2017 wieder Todesurteile vollstreckt, ebenso wie im Staat Palästina (5). Singapur nahm Hinrichtungen erstmals seit dem Jahr 2019 wieder auf – dort wurden 11 Menschen getötet.

In Myanmar (4) wurden sogar erstmals seit vier Jahrzehnten wieder Todesurteile vollstreckt. Amnesty International kritisiert, das Militär habe Menschen nach grob unfairen und geheimen Verfahren willkürlich hingerichtet.

Im Irak (mindestens 11), Japan (eine), Jemen (mindestens 4), Somalia (mindestens 6) und Südsudan (mindestens 5) ging die Zahl der Hinrichtungen im vergangenen Jahr zurück. Somalia und Südsudan waren die einzigen beiden Länder in Subsahara-Afrika, die Menschen töten ließen – wobei in 16 Ländern der Region Todesurteile verhängt wurden.

In der Region Europa und Zentralasien blieb Belarus das einzige Land, das Hinrichtungen vornimmt – ein Mensch wurde dort im vergangenen Jahr getötet.

Auf dem amerikanischen Doppelkontinent waren die USA im 14. Jahr in Folge der einzige Staat, der Menschen hinrichtet. Guayana sowie Trinidad und Tobago haben ebenfalls neue Todesurteile verhängt – aber nicht vollstreckt. Die Zahl der staatlichen Exekutionen in den USA ist von 11 im Jahr 2021 auf 18 im Jahr 2022 gestiegen. Sie wurden in sechs Bundesstaaten vollzogen: Alabama, Arizona, Mississippi, Missouri, Oklahoma und Texas – auf Bundesebene gilt weiterhin ein Hinrichtungsmoratorium.

23 US-Bundesstaaten haben die Todesstrafe inzwischen für alle Verbrechen abgeschafft. Nach Angaben von Amnesty International haben zudem 14 der verbleibenden 27 Bundesstaaten seit mindestens 10 Jahren keine Hinrichtung mehr durchgeführt.

Verstoß gegen internationales Recht

Amnesty International kritisiert, dass die Todesstrafe in einigen Staaten auch im Jahr 2022 unter Verletzung internationalen Rechts angewendet wurde. So habe sich etwa die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit Drogendelikten getötet wurden, im Vergleich zum Jahr 2021 mehr als verdoppelt. Nach internationalem Recht sei die Verhängung der Todesstrafe aber auf “schwerste Verbrechen” beschränkt, die eine vorsätzliche Tötung beinhalten. China, Iran, Saudi-Arabien und Singapur hätten Todesurteile wegen Betäubungsmittelstrafen vollstreckt – auch in Vietnam sei dies vermutlich der Fall.

Die Organisation kritisiert auch, dass im Iran mindestens fünf Personen getötet wurden, die zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig waren.

Mehr Todesurteile in einigen Ländern

Im Jahr 2022 wurden laut dem Bericht in 52 Ländern Menschen zum Tode verurteilt – im Jahr 2021 hatten noch Gerichte in 56 Ländern die Strafe verhängt. Amnesty International erfasste insgesamt 2016 neue Todesurteile, wobei die Zahlen in einigen Staaten signifikant gestiegen seien: So habe beispielsweise Ägypten 538 Menschen zum Tode verurteilt, Indien 165 und auch in Algerien wurden 54 Todesurteile verhängt.

Dem Bericht zufolge wurden solche Urteile teils nach Gerichtsverfahren ausgesprochen, die nicht den internationalen Standards für ein faires Verfahren entsprachen, unter anderem in Afghanistan, Ägypten, Irak, Iran und Myanmar. In Ägypten, Iran, Jemen und Saudi-Arabien seien Geständnisse möglicherweise durch Folter erzwungen worden.

Ende 2022 befanden sich weltweit mindestens 28.282 Personen in den Todestrakten. Auch diese Zahl könnte laut Bericht jedoch höher liegen, weil aus Ländern wie Ägypten, China, Libyen, Nordkorea und Saudi-Arabien nicht bekannt ist, wie viele zum Tode verurteilte Personen in den Gefängnissen sitzen.

Weitere Länder schaffen Todesstrafe ab

Der Bericht dokumentiert darüber hinaus aber auch positive Entwicklungen: So haben sechs weitere Länder im Jahr 2022 die Todesstrafe vollständig oder zum Teil abgeschafft. In Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone sowie in der Zentralafrikanischen Republik wurde sie für alle Straftaten aufgegeben, in Äquatorialguinea und Sambia nur für den Bereich des gewöhnlichen Strafrechts. Amnesty International betrachtet diese beiden Fälle als Teilabschaffung, denn nach Militärrecht könne die Todesstrafe dort weiterhin verhängt werden.

Bis zum Jahresende 2022 hatten insgesamt 112 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten aus ihrem Recht getilgt.

Auch Liberia und Ghana hätten rechtliche Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe eingeleitet. Die Behörden von Sri Lanka und den Malediven haben angekündigt, künftig keine Todesurteile zu vollstrecken.

Amnesty International fordert die weltweite Abschaffung der Todesstrafe. Die Organisation erklärte, Verbrechen müssten geahndet werden – die Todesstrafe verstoße jedoch grundlegend gegen die Menschenrechte. Sie verletze das Recht auf Leben und stelle eine “unmenschliche und erniedrigende Strafe dar”.

Duchrow kommentierte: “Die Welt hat sich zweifellos auch 2022 weiter von der Todesstrafe als Strafmittel entfernt. Die Länder, die weltweit für die meisten Hinrichtungen verantwortlich sind – China, Iran, Saudi-Arabien, Nordkorea und Vietnam – gehören mit ihrem brutalen Vorgehen jetzt eindeutig zu einer isolierten Minderheit. Gerade hier stellen wir unsere Forderung nach einem Ende der Todesstrafe besonders laut. Amnesty International wird die Kampagne zur weltweiten Abschaffung der Todesstrafe so lange weiterführen, bis kein Mensch mehr Opfer staatlicher Exekutionen wird.” (js)