EuGH stärkt Asylrecht afghanischer Frauen
Seit ihrer Machtübernahme im Jahr 2021 haben die Taliban die Rechte von afghanischen Frauen stark eingeschränkt. Diese diskriminierenden Maßnahmen stellen Verfolgungshandlungen dar, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg am Freitag entschieden. Dem Urteil zufolge rechtfertigt es alleine die Situation von Frauen unter der Taliban-Herrschaft, ihnen die Flüchtlingseigenschaft in einem EU-Land zuzuerkennen.
Hintergrund der Entscheidung ist ein Verfahren aus Österreich: Zwei Afghaninnen hatten dort vor dem Verwaltungsgerichtshof geklagt, weil sich die österreichischen Behörden geweigert hatten, sie als Flüchtlinge anzuerkennen. Die Klägerinnen hatten die Situation von Frauen unter dem Taliban-Regime geltend gemacht. Medienberichten zufolge hatte eine der Klägerinnen als Fluchtgrund angegeben, dass ihr Vater sie als 14-Jährige gegen ihren Willen verheiraten wollte.
Der EuGH stellte nun fest, dass einige der von den Taliban ergriffenen Maßnahmen gegen Frauen für sich genommen als “Verfolgung” einzustufen sind – denn sie stellten eine schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts dar. Dies gelte beispielsweise für Zwangsverheiratungen, weil diese mit einer Form der Sklaverei gleichzustellen seien. Ebenso sei der fehlende Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt als Verfolgung einzustufen. Dabei handle es sich um “Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung”.
Afghanischen Frauen werden Grundrechte vorenthalten
Die weiteren diskriminierenden Maßnahmen der Taliban, wie der eingeschränkte Zugang zu Bildung und der Ausschluss von Frauen vom politischen Leben, stellen laut dem obersten EU-Gericht in ihrer Gesamtheit ebenfalls eine solche Verfolgung dar. Aufgrund ihrer “kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung” führten sie dazu, dass Frauen “in flagranter Weise die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten” werden.
Der Entscheidung zufolge muss bei der Prüfung eines Asylantrags einer afghanischen Frau nicht mehr im Einzelfall festgestellt werden, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht. Vielmehr genüge es, lediglich ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht zu berücksichtigen.
“Wegweisendes” Urteil
Auf Anfrage von Posteo kommentierte Amnesty International in Deutschland: “Nach den rassistischen Debatten und den zweifelhaften aktuellen Gesetzgebungsvorschlägen im Asylbereich ist dieses EuGH-Urteil wegweisend für die Stärkung des Schutzes von Geflüchteten und ein wichtiger Schritt zur Anerkennung von geschlechtsspezifischer Verfolgung als Verfolgungsgrund. Frauen und Mädchen sind in Afghanistan weit verbreiteter und institutionalisierter geschlechtsspezifischer Diskriminierung ausgesetzt. Die Taliban haben sie aus allen Lebensbereichen verdrängt und sie systematisch ihrer Menschenrechte und ihrer Würde beraubt.” Nun sei klar, dass afghanischen Mädchen und Frauen in der gesamten EU immer Schutz gewährt werden muss, ohne dass es hierfür einer Einzelfallprüfung bedürfe.
Constantin Hruschka, Juraprofessor an der Evangelischen Hochschule Freiburg und Asylrechtsexperte, erklärte gegenüber der Tagesschau, der Schutz von Afghaninnen verbessere sich nun in ganz Europa. Der EuGH habe klargestellt, dass eine “Gruppenverfolgungssituation” gegeben sei. Alle Frauen mit afghanischer Staatsangehörigkeit seien daher als Flüchtlinge anzuerkennen. Damit sei der Schutz dieser Frauen in Europa einheitlich geregelt und auch Behörden und Gerichte in Deutschland müssten sich an diesen Grundsätzen orientieren.
Anhaltende Menschenrechtskrise
Die Taliban hatten am 15. August 2021 erneut die Macht in Afghanistan übernommen und haben seitdem insbesondere die Rechte von Frauen und Mädchen eingeschränkt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) bezeichnet die Situation sogar als weltweit schwerste Krise für Frauenrechte.
So dürfen Mädchen die Schule nur bis zur sechsten Klasse besuchen. Menschenrechtlern zufolge ist das ansonsten in keinem anderen Land der Welt der Fall. Obwohl Mädchen unter 12 Jahren zur Schule gehen dürften, sind aber auch diese Schulbesuche nach Angaben der UN-Bildungsorganisation UNESCO drastisch gesunken.
Frauen haben die Taliban zudem Ende 2022 den Zugang zu höherer Bildung untersagt. Überwiegend ist es ihnen auch verboten zu arbeiten.
Die Taliban zwingen Frauen auch, ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen. Auch ihre Bewegungsfreiheit wurde nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen eingeschränkt, ebenso wie der Zugang zu Gesundheitsversorgung.
Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Afghanistan, Richard Bennett, sprach im Juli von einem “systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung”. Die Verstöße der Taliban gegen die Grundrechte von Frauen und Mädchen hätten sich weiter verschärft.
Erst Ende August hatte ein neues Taliban-Gesetz für Kritik gesorgt, das Strafen für Frauen vorsieht, die in der Öffentlichkeit singen. Das neue Gesetz verschärft und erweitert auch andere diskriminierende Vorgaben wie etwa die Kleidervorschriften sowie die Pflicht für Frauen, einen männlichen Vormund zu haben. UN-Experten zufolge ähneln die neuen Vorschriften Bestimmungen, die von den Taliban bereits während ihrer Herrschaft in den 1990er Jahren verhängt wurden.
Die UN-Expertin Roza Otunbayeva kritisierte im August, mit dem neuen Gesetz würden “die ohnehin schon unerträglichen Einschränkungen der Rechte afghanischer Frauen und Mädchen noch weiter ausgedehnt, wobei offenbar schon der Klang einer weiblichen Stimme außerhalb des Hauses als moralischer Verstoß gilt.” (js)