Amnesty-Jahresbericht: 2022 geprägt von Flucht und Protesten
Weltweit waren mehr als 100 Millionen Menschen im vergangenen Jahr auf der Flucht. In vielen Ländern gab es zudem große Protestbewegungen. Das berichtet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in ihrem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht, der die Menschenrechtslage in 156 Staaten dokumentiert. Die Organisation fordert Regierungen dazu auf, die Menschenrechte zu stärken und Verantwortliche für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung zu ziehen.
In vielen Teilen der Welt gingen Menschen 2022 für ihre Rechte auf die Straße – etwa im Iran oder in Peru. Regierungen hätten darauf mit Repressionen reagiert: In 85 der 156 von Amnesty betrachteten Länder setzten Sicherheitskräfte demnach unrechtmäßig Gewalt gegen Demonstrierende ein. In 25 Ländern hätten sie sogar tödliche Waffen verwendet.
Die Organisation hat außerdem in 79 Ländern willkürliche Festnahmen von Aktivistinnen und Aktivisten dokumentiert. In 29 Staaten wurde darüber hinaus das Recht auf friedlichen Protest eingeschränkt.
Protestierende im Iran getötet
Ein Beispiel sind die Ereignisse im Iran: Seit dem Tod von Mahsa Amini im September 2022 kommt es dort zu Protesten. Laut Amnesty wurden seitdem mehr als 22.000 Menschen – darunter auch zahlreiche Kinder und Jugendliche – willkürlich verhaftet. Bei den Demonstrationen seien Menschen auch aus nächster Nähe erschossen worden. Andere wurden verschleppt, gefoltert und in unfairen Gerichtsverfahren zu langen Haftstrafen verurteilt.
Das Regime hat außerdem Menschen im Zusammenhang mit den Protesten zum Tode verurteilt – mindestens vier Menschen wurden bereits exekutiert. Akut drohe 14 weiteren die Hinrichtung.
Insgesamt sei die Zahl der staatlichen Tötungen im Iran im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Die Behörden setzten Todesurteile als “Mittel der politischen Unterdrückung” ein, heißt es in dem über 400 Seiten starken Bericht.
Amnesty kritisiert, auch die Justiz in Saudi-Arabien würde “nach grob unfairen Verfahren” Todesurteile verhängen: Im März 2022 hatten die Behörden 81 Menschen an einem einzigen Tag hinrichten lassen.
In Russland wurden friedliche Proteste gegen den Krieg unter Einsatz exzessiver Gewalt aufgelöst. Laut Amnesty wurden mehr als 19.400 Menschen festgenommen – darunter auch Medienschaffende, die über die Proteste berichtet hatten.
Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, kommentierte: “Wer gegen Unterdrückung und Leid auf die Straße geht, braucht Unterstützung durch Öffentlichkeit und politischen Druck von Regierungen.” Dazu zähle auch, dass Deutschland und die Europäische Union den Export von biometrischen Überwachungstechnologien verbieten. Denn Länder wie der Iran oder Russland würden solche Technologien einsetzen, um “friedlich Protestierende zu identifizieren und zu verfolgen”.
Kriegsverbrechen in 20 Ländern dokumentiert
Amnesty International berichtet zudem von einer “nie da gewesenen Fluchtbewegung”: 103 Millionen Menschen seien weltweit im vergangenen Jahr auf der Flucht gewesen. Sie flohen vor gewaltsamen Konflikten und Kriegsverbrechen, vor Menschenrechtsverletzungen und weil sie ihrer Lebensgrundlagen beraubt werden.
Positiv hebt Amnesty hervor, dass EU-Länder Menschen aufgenommen haben, die vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geflohen sind. “Dies zeigte, dass die EU als einer der wohlhabendsten Staatenverbände der Welt durchaus in der Lage war, eine große Anzahl schutzsuchender Menschen aufzunehmen und ihnen Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Gesundheitsversorgung, Bildungsleistungen und Wohnraum einzuräumen”, so die Organisation. Sie kritisiert aber, der Umgang mit ukrainischen Geflüchteten habe sich “grundlegend” von der Behandlung unterschieden, die Schutzsuchende aus anderen Weltregionen erfuhren. Menschen seien etwa über Land- und Seegrenzen zurückgedrängt worden – teils unter Einsatz von Gewalt.
Auch auf dem afrikanischen Kontinent wurden Millionen Menschen durch Konflikte oder Folgen der Klimakrise aus ihrer Heimat vertrieben. Alleine in Somalia seien 1,8 Millionen Menschen betroffen.
Erstmals enthält der Amnesty-Bericht auch eine Statistik zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Die Organisation hat Belege dafür in 20 der 156 untersuchten Länder gesammelt. So ging etwa die russische Armee in der Ukraine mit Angriffen auf Wohngebiete und dem Einsatz verbotener Streumunition vor.
In Äthiopien verübten Regierungstruppen und andere bewaffnete Gruppen nach Angaben von Amnesty Massentötungen sowie gezielte Angriffe auf Zivilisten. Und auch in Myanmar wurden Zivilisten und zivile Objekte angegriffen.
Beeko erklärte: “Es gilt, die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Regierungen müssen dafür das Völkerrecht und die internationale Menschenrechtsarchitektur stärken.”
In Afghanistan hätten Taliban-Mitglieder Zivilpersonen hingerichtet – auch dabei handle es sich “eindeutig” um Kriegsverbrechen.
Amnesty kritisiert auch, dass die Rechte von Frauen und Mädchen in dem Land “massiv” unterdrückt werden. So durften Mädchen auch im Jahr 2022 keine weiterführenden Schulen besuchen. Ende des Jahres hatten die Taliban Frauen zudem jegliche Hochschulbildung verboten. Viele Familien hätten die Rechte von Frauen und Mädchen außerdem von sich aus beschnitten, nachdem die Taliban angekündigt hatten, männliche Familienmitglieder für Verstöße ihrer weiblichen Verwandten zur Verantwortung zu ziehen.
Regierungen schränkten Meinungsfreiheit ein
Die Taliban hätten darüber hinaus die Medienfreiheit eingeschränkt. Regimekritische Medienschaffende mussten mit willkürlichen Festnahmen und anderen Repressalien rechnen. Die Taliban seien zudem mit “übermäßiger und unnötiger Gewalt” gegen Demonstrierende vorgegangen. Festgenommene Personen wurden teils gefoltert.
Die Unterdrückung von Andersdenkenden und Angehörigen der Zivilgesellschaft war 2022 aber auch in anderen Ländern zu beobachten: In Russland etwa wurde per Gesetz jede Kritik am Krieg in der Ukraine unterbunden. In Myanmar wurden Dutzende Medienschaffende festgenommen und unabhängige Medien verboten. Auch in Mali verhängten die Behörden vorübergehende Medienverbote.
In der Türkei wurden Menschenrechtler, Medienschaffende und Oppositionelle vor Gericht gestellt – Amnesty nennt die Anklagen “konstruiert”. Das Parlament verabschiedete zudem ein neues Gesetz über die “Verbreitung von Desinformationen”, das Plattformen zum Löschen von Inhalten und zur Herausgabe von Nutzerdaten zwingt.
Die Regierung in Ägypten hatte im Vorfeld der Weltklimakonferenz COP27 im November Hunderte Personen freigelassen, die aus politischen Gründen inhaftiert waren. Allerdings wurden laut Amnesty im selben Zeitraum “dreimal so viele Menschen willkürlich festgenommen, weil sie Kritik äußerten oder als Andersdenkende betrachtet wurden”. Darunter befanden sich auch Personen, die zu Protesten während der Konferenz aufgerufen hatten.
Ein Sonderstrafgericht in Saudi-Arabien verurteilte mindestens 15 Personen zu langen Haftstrafen, weil sie ihre Meinung unter anderem auf Twitter geäußert hatten.
Reform des UN-Sicherheitsrates gefordert
Kritik übt Amnesty International aber auch an der Menschenrechtslage in Deutschland: So habe das Fehlen eines unabhängigen Beschwerdemechanismus auf Bundes- und Länderebene weiterhin die Untersuchung von Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei behindert. Das neue Versammlungsgesetz in Nordrhein-Westfalen schränke zudem die Versammlungsfreiheit unverhältnismäßig stark ein.
Angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen weltweit fordert Amnesty eine Stärkung und Weiterentwicklung von internationalen Instituten und Systemen. Hierfür müssten Regierungen die UN-Menschenrechtsmechanismen vollständig finanzieren, die Arbeit internationaler Gerichte unterstützen und deren Urteile konsequent umsetzen. Darüber hinaus fordert die Organisation eine Reform des UN-Sicherheitsrates. Bei vielen Konflikten sei das Gremium nicht in der Lage gewesen, wirksame Maßnahmen zu ergreifen.
“Kriegsverbrechen, Flucht und Protest zeigen, dass es nun gilt, dem Recht und den Menschenrechten zu stärkerer internationaler Beachtung zu verhelfen. Wir müssen unsere Regierungen hierzu in die Pflicht nehmen”, erklärte Beeko. (js)