Amnesty-Jahresbericht: Regierungen schränken Menschenrechte ein
Im vergangenen Jahr hat die Unterdrückung kritischer Stimmen weltweit zugenommen. Das berichtet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in ihrem am Dienstag veröffentlichten Jahresbericht, der die Menschenrechtslage in 154 Staaten dokumentiert. Die Organisation kritisiert die internationale Gemeinschaft auch für ihre unzureichende Reaktion auf viele Konfliktherde. Sie habe so den Nährboden für weitere Eskalationen und bewaffnete Auseinandersetzungen bereitet.
Amnesty International beklagt, dass weltweit zahlreiche Menschenrechtler, Mitarbeiter von NGOs, Medienschaffende und Oppositionelle Opfer rechtswidriger Inhaftierungen und Folter geworden sind. Häufig sei dies unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung geschehen.
Mindestens 67 Länder haben dem Bericht zufolge im vergangenen Jahr Gesetze eingeführt, die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit einschränken. Darunter Ägypten, Kambodscha, Pakistan, die Türkei und die USA.
In Russland und der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong hätten die Regierungen “drastische Maßnahmen” ergriffen, “die zuvor als undenkbar galten”, um Nichtregierungsorganisationen und Medienunternehmen zu schließen. In Afghanistan mussten über 200 Medien nach der Machtübernahme der Taliban ihre Arbeit einstellen.
Unter anderem in China und dem Iran wurden Menschen verhaftet und strafrechtlich verfolgt, weil sie den Umgang ihrer Regierungen mit der Pandemie kritisiert hatten. In mindestens 84 der untersuchten 154 Länder wurden Menschenrechtler willkürlich festgenommen. In Mittel- und Südamerika und der Karibik wurden 252 Menschenrechtsaktivisten getötet, weltweit waren es 358. Für diese Angriffe seien auch bewaffnete Gruppen verantwortlich, die teilweise mit Billigung staatlicher Stellen handelten: So hätten nichtstaatliche Kräfte in Brasilien unvermindert Umweltaktivisten getötet.
Internetsperren und digitale Überwachung
Auch digitale Technologien wurden laut Amnesty wiederholt gegen Menschen eingesetzt. In Russland beispielsweise haben Behörden Gesichtserkennung genutzt, um regierungskritische Demonstrierende zu identifizieren und zu verhaften.
Weltweit wurden friedliche Proteste ungerechtfertigt verhindert oder beendet. Um Menschen davon abzuhalten, Proteste zu organisieren, hätten mehrere Regierungen den Zugang zum Internet oder den sozialen Netzwerken blockiert – beispielsweise in Myanmar, Kuba und dem Südsudan.
Im Bericht werden auch die Enthüllungen um die Spionagesoftware Pegasus erwähnt: Gemeinsam mit internationalen Medien hatte Amnesty im vergangenen Jahr aufgedeckt, wie weltweit Medienschaffende, Menschenrechtler und Oppositionelle ausgespäht wurden. Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard schreibt im Vorwort des Berichts, dies habe gezeigt, “mit welch heimtückischen Taktiken abweichende Meinungen unterdrückt werden”.
Menschenrechtsverstöße in Konflikten
Die Menschenrechtsorganisation berichtet zudem von neuen und anhaltenden Konflikten im Jahr 2021 – unter anderem in Afghanistan, Äthiopien, Burkina Faso, dem Jemen und Myanmar. Die Konfliktparteien hätten gegen internationale Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verstoßen. In der Folge seien viele Menschen vertrieben und getötet worden.
Die internationale Staatengemeinschaft habe auf diese Konflikte nur unzureichend oder zu zögerlich reagiert und Menschenrechtsverletzungen nicht sanktioniert. Dem UN-Sicherheitsrat wirft Amnesty International vor, nicht auf Gräueltaten in Myanmar, Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan und Kriegsverbrechen in Syrien reagiert zu haben.
Völkerrechtsverstoß in der Ukraine
Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, kritisierte: “Die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf viele Konfliktherde weltweit war auch im letzten Jahr meistens unzureichend oder zu zögerlich. Zu oft vermieden Staaten aufgrund wirtschaftlicher oder machtpolitischer Interessen in internationalen Foren und bilateral frühzeitig und konsequent auf die Einhaltung von Völker- und Menschenrecht zu dringen, zu oft fehlte es an wirksamen internationalen Reaktionen.”
Aktuell verletze Russland mit dem Krieg gegen die Ukraine das Völkerrecht. Amnesty habe in der Ukraine wahllose Angriffe auf Krankenhäuser, Wohngebiete und Kindergärten sowie den Einsatz verbotener Streumunition belegt.
Beeko konstatierte: “Die Antwort auf die sich überschlagenden und miteinander verknüpften Krisen unserer Zeit lautet: Nicht weniger, sondern mehr internationale Ordnung und Menschenrechtsschutz. Die Lehre aus dem vergangenen Jahr, wie auch aus dem Angriff auf die Ukraine, ist: Wir dürfen nicht zulassen, dass zunehmend Aggression und Völkerrechtsverstöße das globale Geschehen bestimmen. Stattdessen müssen die Stärkung internationaler Ordnungssysteme, die Achtung der Menschenrechte, Abrüstungsinitiativen und der Flüchtlingsschutz ins Zentrum gerückt werden.”
Illegale Push-Backs in der EU
Im Zuge von Krisen komme es zu Vertreibungen und Fluchtbewegungen. Bislang seien 3,8 Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Amnesty International spricht von der “größten Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg”. Die Organisation begrüßt, dass die EU und auch die Bundesregierung schnell darauf reagiert und Geflüchteten aus der Ukraine eine temporäre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zugesprochen haben. Doch Amnesty mahnt auch, nicht die Menschen zu vergessen, die vor anderen bewaffneten Konflikten oder vor politischer Verfolgung fliehen.
Flüchtenden aus dem Nahen Osten etwa schlage vielerorts weiterhin ein hohes Maß an Ablehnung entgegen. An den EU-Außengrenzen werde ihnen rechtswidrig und mit Gewalt der Zugang zu ihnen völkerrechtsmäßig zustehenden Asylverfahren verwehrt. Im vergangenen Jahr hatte die Organisation Misshandlungen und illegale Push-Backs dokumentiert – etwa durch griechische Grenzbeamte und an der kroatisch-bosnischen oder der polnisch-belarussischen Grenze. Die USA hätten im Jahr 2021 fast 1,5 Millionen Menschen an der Grenze zu Mexiko unrechtmäßig zurückgewiesen. Davon seien auch zehntausende unbegleitete Kinder betroffen gewesen.
Recht auf Gesundheit bedroht
Darüber hinaus kritisiert Amnesty die ungerechte Impfstoffverteilung während der Corona-Pandemie. Länder wie Deutschland und Norwegen hätten außerdem systematisch Versuche blockiert, die weltweite Produktion von Impfstoffen schnellstmöglich auszuweiten. Besonders Afrika habe darunter gelitten: Ende 2021 waren dort nur 8 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Amnesty kritisiert: “Diese globale Impfungerechtigkeit verfestigte bestehende rassistische Ungerechtigkeiten noch mehr.”
Das Menschenrecht auf Gesundheit sei 2021 bedroht gewesen. Regierungen hätten nichts gegen die weitverbreitete, jahrzehntelange Vernachlässigung und Unterfinanzierung des Gesundheitswesens oder den ungleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung unternommen.
Auch die Ergebnisse der UN-Klimakonferenz kritisiert die Organisation: Die Regierungen hätten ihre Bürgerinnen und Bürger verraten, weil sie sich nicht auf ein Abkommen einigen konnten, das “eine katastrophale Erderwärmung” verhindert hätte. “Weite Teile der Menschheit wurden zu einer Zukunft mit Wasserknappheit, Hitzewellen, Überschwemmungen und Hunger verdammt”, heißt es im Vorwort des Berichts.
Kritik übt Amnesty auch an der Menschenrechtssituation in Deutschland: So habe die Bundesregierung im Mai 2021 zwar Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Rassismus verabschiedet. Diese reichten aber nicht aus, um gegen institutionellen Rassismus vorzugehen. Die Organisation bemängelt auch, dass es keine unabhängigen Beschwerdemechanismen auf Bundes- und Länderebene gebe, um diskriminierende Übergriffe durch die Polizei zu untersuchen. Außerdem kritisiert Amnesty, dass im Juni 2021 allen deutschen Nachrichtendiensten die Möglichkeit eingeräumt wurde, Spähsoftware zur Überwachung von Kommunikation einzusetzen.
Im Vorwort des Berichts findet Generalsekretärin Agnès Callamard aber auch positive Worte: Im vergangenen Jahr hätten sich Menschen weltweit für ihre eigenen und die Rechte anderer eingesetzt. Sie forderten bessere Institutionen, faire Gesetze und eine gerechtere Gesellschaft. In mehr als 80 Ländern seien Menschen dafür auf die Straße gegangen. (js)