Human Rights Watch: 2023 war von Krisen geprägt

Verschleierte Frauen auf einem Truck in Afghanistan
Frauenrechte seien vielerorts massiv eingeschränkt worden, wie sich beispielsweise in Afghanistan zeige, berichtet HRW. (Quelle: IMAGO / Kyodo News)

Das Jahr 2023 war von einigen der schlimmsten Krisen und Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit geprägt. Zu diesem Schluss kommt die Organisation Human Rights Watch (HRW) in ihrem aktuellen “World Report 2024”. Staats- und Regierungschefs hätten es häufig versäumt, sich für den Schutz der Menschenrechte stark zu machen.

In ihrem 740 Seiten starken “World Report” dokumentiert die Organisation die Menschenrechtslage in über 100 Ländern. Der jährlich erscheinende Bericht wurde in diesem Jahr in seiner 34. Ausgabe veröffentlicht.

HRW beklagt, die bewaffneten Konflikte zwischen der israelischen Regierung und der Terrororganisation Hamas, in der Ukraine, in Myanmar, in Äthiopien und in der Sahelzone hätten unermessliches Leid verursacht. Außerdem sei das Jahr 2023 das wärmste seit Beginn der globalen Aufzeichnungen im Jahr 1880 gewesen. Zahlreiche Waldbrände, Dürren und Stürme haben in Ländern wie Bangladesch, Libyen und Kanada verheerende Schäden angerichtet. Auch die wirtschaftliche Ungleichheit habe weltweit zugenommen.

In ihrem einleitenden Essay kritisiert Tirana Hassan, geschäftsführende Direktorin von HRW, das Jahr 2023 sei auch ein Jahr der selektiven Empörung von Regierungen und der Transaktionsdiplomatie gewesen. Für Menschen, deren Stimmen nicht gehört wurden, habe das weitreichende Folgen gehabt.

“Das internationale System, auf das wir uns beim Schutz der Menschenrechte verlassen, ist bedroht, da die Staats- und Regierungschefs der Welt wegschauen, wenn universelle Menschenrechtsprinzipien verletzt werden”, so Hassan. “Jedes Mal, wenn eine Regierung diese universellen und weltweit anerkannten Grundsätze missachtet oder ablehnt, zahlen Menschen hierfür einen hohen Preis – manchmal kostet es sie sogar das Leben.”

Repressiver Kurs der chinesischen Regierung

Dass die Menschenrechte bisweilen der Politik zum Opfer fallen, zeige sich beispielsweise, wenn viele Regierungen es versäumen würden, die zunehmende Unterdrückung durch die chinesische Regierung anzusprechen.

HRW zufolge verfolgt die chinesische Regierung Uiguren und andere turkstämmige Muslime weiter. Dies stelle ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar – viele Regierungen würden jedoch weiter zu dem Thema schweigen, auch in überwiegend muslimischen Ländern.

In Tibet habe die chinesische Regierung drastische Maßnahmen der Informationskontrolle verhängt, sodass es schwierig sei, Nachrichten aus der Region zu erhalten. Und in Hongkong wurden Bürgerrechte abgeschafft, etwa durch willkürliche Verhaftungen wegen angeblicher Verstöße gegen die nationale Sicherheit. Auf 13 im Exil lebende Demokratieaktivistinnen und -aktivisten seien sogar Kopfgelder ausgesetzt worden. In ganz China habe die Regierung die Zivilgesellschaft unter noch schärfere Kontrolle gestellt.

Bildungsverbot für afghanische Mädchen

Auch in Afghanistan hat die Unterdrückung zugenommen, so HRW. Insbesondere Frauen litten unter den Taliban. Die Wirtschaftskrise im Land habe außerdem dazu geführt, dass nahezu zwei Drittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen sind.

Fereshta Abbasi von HRW konstatierte: “Die Taliban haben auf die Forderungen der Afghanen nach Rechten und Rechenschaftspflicht mit verstärkter Unterdrückung, insbesondere von Frauen und Mädchen, reagiert.”

Weltweit war Afghanistan laut Bericht im Jahr 2023 das einzige Land, in dem Frauen und Mädchen offiziell von der Sekundar- und Hochschulbildung ausgeschlossen sind. Die Taliban seien zudem mit exzessiver Gewalt gegen Demonstrationen von Frauen vorgegangen und hätten Demonstrierende willkürlich verhaftet. In einigen Fällen seien sie wochenlang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden.

Erst kürzlich war bekannt geworden, dass die Taliban seit Anfang des Jahres auch Frauen und Mädchen verhaftet haben, weil diese gegen die strenge Kleiderordnung verstoßen haben sollen.

Hunderte Hinrichtungen im Iran

Auch im Iran gehen die Behörden verstärkt gegen Frauen vor, die sich den Kleidervorschriften widersetzen. Vor dem Jahrestag der landesweiten Proteste – die nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Jina Amini im September 2022 ausgebrochen waren – hätten die Behörden unter anderem Aktivistinnen und Aktivisten, Künstler und Studierende festgenommen. Auch Familienangehörige von Demonstrierenden, die im Jahr 2022 getötet wurden, seien eingeschüchtert und verhaftet worden.

Die Zahl der Hinrichtungen hat nach Angaben von HRW 2023 im Iran ebenfalls zugenommen: Zwischen Januar und November 2023 haben Menschenrechtler mehr als 700 Exekutionen dokumentiert. Todesurteile seien auch im Zusammenhang mit den Protesten verhängt worden.

Saudi-Arabien verhänge die Todesstrafe weiterhin – selbst bei Drogendelikten, berichtet HRW. Auch Nutzerinnen und Nutzer sozialer Medien würden wegen Meinungsäußerungen zunehmend ins Visier genommen und mit jahrzehntelangen Haftstrafen oder sogar mit dem Tod bestraft. International Kritik hervorgerufen hatte im vergangenen Jahr das Todesurteil gegen den pensionierten Lehrer Mohammed al-Ghamdi. Er wurde verurteilt, weil er mit seinen Meinungsäußerungen im Internet angeblich gegen das Anti-Terror-Gesetz des Landes verstoßen haben soll.

HRW wirft außerdem saudischen Grenzschützern vor, Hunderte Migranten an der Grenze zum Jemen brutal getötet zu haben. Um die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Land zu verbergen, investiere die Regierung Milliardensummen in Sportereignisse.

In Tunesien hat die NGO Übergriffe der Behörden auf Migranten und Asylsuchende dokumentiert. Menschen seien auch in abgelegene Gebiete entlang der tunesischen Grenze zu Libyen und Algerien ausgewiesen worden – wo sie teils wochenlang ohne Zugang zu Wasser, Lebensmitteln oder medizinischer Versorgung ausharren mussten.

Dissidenten in Belarus und Vietnam eingesperrt

Die Menschenrechtsorganisation berichtet zudem, die Regierungen in Belarus und Vietnam seien im vergangenen Jahr weiter gegen kritische Stimmen vorgegangen. In Belarus wurden etwa Menschenrechtler, Medienschaffende, Anwälte, Oppositionelle und Gewerkschafter verfolgt. Im November saßen dort mindestens 1462 Menschen wegen politisch motivierter Vorwürfe im Gefängnis.

Anastasiia Kruope von HRW kommentierte: “Im vergangenen Jahr haben die belarussischen Behörden die Unterdrückung weiter verstärkt und ein Informationsvakuum geschaffen, indem sie die politischen Gefangenen von der Außenwelt abgeschottet und ihre Anwälte und Familien zum Schweigen gebracht haben.”

In Vietnam befinden sich derzeit mehr als 160 Menschen in Haft, weil sie grundlegende Rechte wahrgenommen hätten. In den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres seien mindestens 28 Aktivistinnen und Aktivisten zu langen Haftstrafen verurteilt worden.

Und auch in Indien seien Aktivisten, Medienschaffende, Oppositionspolitiker und andere Regierungskritiker verhaftet worden.

Human Rights Watch kritisiert außerdem, dass Indien zunehmend auf eine digitale Infrastruktur für staatliche Leistungen setze. Aufgrund häufiger Netzsperren in dem Land könnten diese oft aber nicht in Anspruch genommen werden, worunter insbesondere ärmere Bevölkerungsteile leiden – weder Lebensmittelrationen können dann verteilt, noch Arbeitslöhne ausgezahlt werden.

In dem Bericht übt HRW zudem scharfe Kritik an der Migrationspolitik der Europäischen Union: Der Staatenbund habe damit zu Todesfällen, Folter und Menschenrechtsverletzungen beigetragen. Die EU habe unter anderem repressive Abschreckungsmaßnahmen und Bündnisse mit Ländern ausgeweitet, die Menschenrechte missachten. Mehrere Mitgliedsstaaten hätten sich an illegalen Pushbacks an den Außengrenzen beteiligt.

Regierungen müssen sich für Menschenrechte einsetzen

Trotz aller Rückschläge habe es im Jahr 2023 aber auch positive Entwicklungen gegeben. HRW begrüßt beispielsweise, dass der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte erlassen hat. Hintergrund sind Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Transfer von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland.

In Brasilien bestätigte der Oberste Gerichtshof das Recht aller indigenen Völker auf ihr traditionelles Land. HRW zufolge ist dies auch eine wirksame Maßnahme gegen die Abholzung im Amazonasgebiet.

Und im November wies der Internationale Gerichtshof die syrische Regierung an, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Folter und andere Misshandlungen zu verhindern. Dies sei ein “entscheidendes Gegengewicht” zum Bestreben einiger Länder, die Beziehungen zur syrischen Regierung zu normalisieren, obwohl es dort nach wie vor zu Menschenrechtsverletzungen komme.

HRW-Chefin Hassan erklärte: “Die Menschenrechtskrisen auf der ganzen Welt machen deutlich, wie dringend notwendig es ist, dass alle Regierungen die seit langem bestehenden und gemeinsam vereinbarten Grundsätze der internationalen Menschenrechte überall und ausnahmslos anwenden. Eine prinzipientreue Diplomatie, bei der die Regierungen ihre Menschenrechtsverpflichtungen in ihren Beziehungen zu anderen Ländern in den Mittelpunkt stellen, kann repressives Verhalten beeinflussen und für die Menschen, deren Rechte verletzt werden, von großer Bedeutung sein.” (js)