Noch nie so viele Netzsperren wie 2022

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Besonders kleine Gewerbetreibende können in vielen Ländern ihr Geschäft nicht weiterbetreiben, wenn der Netzzugang gesperrt wird. (Quelle: IMAGO / Geisser)

Im Jahr 2022 haben Regierungen in 35 Ländern insgesamt 187 mal das Internet abgeschaltet. So lautet die Bilanz, die die Organisation Access Now am Dienstag veröffentlicht hat. 2022 sei “ein katastrophales Jahr für die Menschenrechte” gewesen, konstatierte die NGO.

Autoritär regierte Staaten wie Myanmar, Sudan und der Iran hätten – teils wiederholt – Netzblockaden eingesetzt, um demokratische Bewegungen anzugreifen, die Zivilgesellschaft zu schwächen und Menschenrechtsverletzungen zu verbergen. Zu den Ländern, die die viel kritisierte Maßnahme einsetzten, zählen aber auch zahlreiche Demokratien.

Die indische Regierung ordnete 84 Abschaltungen an – und damit so viele wie kein anderes Land im Jahr 2022. Auf Rang 2: Die Besatzungsmacht Russland. Sie sperrte 22-mal das Internet in Teilen der Ukraine und zerstörte außerdem gezielt Telekommunikationsinfrastruktur. Das iranische Mullahregime ließ 18-mal das Internet abschalten. In der äthiopischen Region Tigray müssen die Menschen bereits seit über zwei Jahren ohne Internet auskommen.

Die Organisation prangert die Netzsperren als “gezielte Angriffe auf die Menschenrechte” an. Felicia Anthonio, Kampagnenmanagerin bei der Organisation sagte: “Im Jahr 2022 haben die Regierungen in autoritären Regimen und Demokratien diese grausamen Taktiken ausgebaut, das Internet gestört, um Unterdrückung zu verstärken – sie haben Narrative manipuliert, Gegenstimmen zum Schweigen gebracht und ihre Gewalt- und Missbrauchshandlungen vertuscht.”

Sperren verschlimmern Katastrophen

2022 wurden mehr Sperren verhängt als jemals zuvor: 2021 hatten die Behörden von 34 Ländern den Zugang zum Netz 184 mal gesperrt; 2020 waren es noch 29 Länder und 159 Blockaden. Nach einem Rückgang auf dem Höhepunkt der Pandemie werden die Zugangssperren nun wieder häufiger eingesetzt. 33 der 35 Länder, die 2022 Shutdowns verhängten, seien Wiederholungstäter.

Die Zugangssperren haben 2022 länger angedauert und auf bestimmte Bevölkerungsgruppen abgezielt. Auch hätten Behörden keine Skrupel gezeigt, die Maßnahme dann einzusetzen, wenn der Zugang zum Netz am dringendsten benötigt wurde: während humanitärer Krisen, Massenprotesten und aktiven Konflikten und Kriegen.

In 62 Fällen sei das Internet während öffentlicher Demonstrationen gesperrt worden, 33-mal bei aktiven Konflikten und in 8 Fällen sogar bei (Hoch-)Schulprüfungen. Auch Wahlen, politische Instabilität, religiöse Feiertage oder Besuche von Regierungsbeamten nahmen Behörden zum Anlass für Netzsperren.

Dem Bericht "Waffen der Kontrolle, Schilde der Straflosigkeit: Internetabschaltungen im Jahr 2022" zufolge dienten mindestens 48 Abschaltungen in 14 Ländern dazu, Menschenrechtsverletzungen zu verschleiern und den Tätern Straflosigkeit zu gewähren. Unter anderem sei dies in Bangladesch, Äthopien, Russland und Tajikistan der Fall gewesen. Wobei die Internetsperren selbst bereits eine Verletzung der Menschenrechte darstellten.

Indien am restriktivsten

Indien führt auch 2022 die Statistik von Access Now an – im fünften Jahr in Folge. Mehr als die Hälfte der Internetabschaltungen in dem Land wurden in dem umstrittenen Unionsterritorium Jammu und Kashmir dokumentiert, das als politisch instabil gilt. Dort sperrten die Behörden den Netzzugang bis zu 100 Tage lang. Auch in West Bengal und Rajasthan verhängten die Behörden mehrfach Internetsperren. Anlass waren unter anderem Proteste, öffentliche Gewalt, aber auch stattfindende Schulprüfungen.

Die Einschränkungen hätten das tägliche Leben von Millionen Menschen über Hunderte Stunden beeinflusst, kritisiert Access Now. Das Geschäft vieler (Klein-)Unternehmer sei auf den Zugang zum Internet angewiesen. Zudem leide der Tourismus bei jeder Sperre, weil die Kommunikation gestört werde und Navigations- und Mobilitäts-Apps nicht mehr funktionieren. Auch Teile des Zahlungsverkehrs sind vom Internet abhängig. “Die Regierung fördert eine bargeldlose Wirtschaft, aber während eines Shutdowns können wir keine einzige Transaktion durchführen”, berichtete ein betroffener Lieferfahrer der Organisation.

Zusätzlich zu den Komplettabschaltungen hätten die indischen Behörden zwischen 2015 und 2022 mindestens 55.607 Webseiten, Anwendungen, Social-Media-Beiträge und -Konten blockiert. Diese Zensurmaßnahmen hätten stetig zugenommen und 2022 seien weit mehr als doppelt so viele Beiträge gesperrt worden als noch im Jahr 2018.

Tigray: Jahrelang offline

In Teilen der Region Tigray dauert die am längsten anhaltende Internetsperre weltweit weiter an. Seit über zwei Jahren ist das Internet in der äthiopischen Provinz blockiert. Anlass war ursprünglich ein bewaffneter Konflikt zwischen der Regierung Äthiopiens und der sogenannten Volksbefreiungsfront von Tigray.

Es habe “erschütternde Auswirkungen” auf das Leben der Menschen gehabt, während der Auseinandersetzung so lange keinen Zugang zum Internet zu haben. Eine Betroffene berichtete Access Now, dass sie ihre Verwandten über zwei Jahre lang nicht kontaktieren konnte. “Die Abschaltung bot den Kriegsparteien einen Deckmantel für abscheuliche Verbrechen, darunter systematische und weit verbreitete Mord, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gegen schutzlose Gruppen”, heißt es im Bericht. Grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung, Bankwesen, Arbeitsbeschäftigung und Bildung funktionierten nur unzuverlässig.

Ein geschlossener Friedensvertrag sieht eigentlich die Wiederherstellung des Zugangs zu wesentlichen Kommunikationsdiensten seit November 2022 vor. Doch berichtet Access Now: “Im Februar 2023 ist die Mehrheit der Menschen in der Region immer noch ohne Verbindung, und die, die wieder Zugang haben, haben mit langsamen Geschwindigkeiten und eingeschränkten 2G-Diensten zu kämpfen.” So bleiben fast sechs Millionen Menschen in Tigray weiter offline.

Die Regierung arbeite zwar an der Aufhebung der Maßnahme, ein Enddatum sieht sie aber noch nicht vor, hatte der äthiopische Minister für Innovation und Technologie, Belete Molla, Ende November auf dem Internet Governance Forum der Vereinten Nationen erklärt.

Netzsperren in Myanmar

Auch in Teilen Myanmars muss die Bevölkerung seit über 540 Tagen ohne Zugang zum Internet auskommen. Access Now berichtet, die Militärregierung habe die Abschaltungen genutzt, um schwere Menschenrechtsverletzungen wie Mord und Folter zu verschleiern und die Kommunikation zwischen Einzelpersonen und Gruppen zu blockieren. Bis heute seien mindestens sieben Abschaltungen erfolgt. “Diese Zahl gibt jedoch nicht das gesamte Ausmaß und die Art der Verbindungsunterbrechungen im ganzen Land wieder”, warnt die Organisation.

Das Militär kontrolliere alle Telekommunikationsanbieter im Land und habe die Überwachungsinfrastruktur ausgebaut. Die Machthaber hätten den Internetzugang in verschiedenen Regionen nacheinander und unregelmäßig abgeschaltet. In vielen Regionen funktionieren VPN-Dienste oder verschlüsselte Messenger-Apps nicht, was auch die sichere Arbeit von Aktivistinnen und Aktivisten erschwere.

Alle 330 Gemeinden des Landes seien 2022 mindestens einmal von einem Internetausfall betroffen gewesen. Funktionierende Kommunikationsverbindungen seien deswegen eher eine Ausnahme als der Normalzustand in Myanmar. Oftmals erfolgten die Sperren, während das Militär Ortschaften angriff und die Menschenrechte verletzte.

Die längste Blockade in der Gemeinde Hpakant im Staat Kachin hielt 18 Monate an. In rund 50 weiteren Gemeinden sperrten die Behörden das Internet mehr als ein Jahr lang – mancherorts auch mehr als 500 Tage lang.

Gegenmaßnahmen

Die Menschenrechtsorganisation kündigt an, sich weiterhin weltweit gegen Internetsperren einzusetzen. “Wir fordern alle Beteiligten auf, ihren Teil dazu beizutragen, unsere Sache voranzubringen, die freie Meinungsäußerung zu wahren und die Menschen miteinander in Verbindung zu halten”, schreiben sie.

Die Organisation ruft Regierungen dazu auf, sich in “Gesetzen, Politik und Praxis” dazu zu verpflichten, den Zugang zum Netz zu sichern.

Technologiefirmen sollten mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und sich austauschen. So könnten sie besser erfahren, wie und wann Abschaltungen auftreten, die sich auf Ihre Dienste auswirken. Es müssten Maßnahmen ergriffen werden, um die Plattformen und Dienste gegen Abschaltungen widerstandsfähig zu machen.

Journalisten und (Rechts-)Experten empfehlen die Aktivisten, Internetabschaltungen zu dokumentieren, Möglichkeiten zu finden, sie zu umgehen und (rechtlich) gegen sie vorzugehen.

Diese Gegenmaßnahmen hätten sich in der Vergangenheit bereits bewährt. “Menschen und Gemeinschaften, die unmittelbar von Schließungen betroffen waren, haben unglaublichen Einfallsreichtum und Entschlossenheit gezeigt, um die Dokumentation von Sperren sowie der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben.” (hcz)