Noch nie so viele Netzsperren wie 2023

Netzwerkkabel
Auch Naturkatastrophen waren Anlass für Netzsperren – ein “besorgniserregender Trend”, so Access Now. (Quelle: IMAGO / Pond5 Images)

Im Jahr 2023 haben Regierungen in 39 Ländern mindestens 283 Internetsperren verhängt. Millionen Menschen waren betroffen. Das berichtete die Organisation Access Now am Mittwoch. Seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2016 hat es demnach noch nie so viele Fälle gegeben. Die NGO spricht von einem “alarmierenden und gefährlichen Trend für die Menschenrechte”.

Laut dem Bericht “Shrinking democracy, growing violence: Internet shutdowns in 2023” (auf Deutsch etwa “Schwindende Demokratie, wachsende Gewalt”) waren mehr Menschen an mehr Orten von Internetsperren betroffen als zuvor. Im Vergleich zum Jahr 2022 gab es demnach weltweit 82 zusätzliche Internetsperren – damals waren es 201 Blockaden in 40 Ländern.

Wie bereits in den vergangenen Jahren hat Access Now auch 2023 die meisten Blockaden in Indien (116 Fälle) gezählt. Für die Behörden des Landes sei das umstrittene Mittel nahezu eine Standardreaktion auf Krisen. Zunehmend würden die Einschränkungen größere Gebiete betreffen als in den vergangenen Jahren – als Beispiel nennt Access Now eine Blockade des Internets im gesamten indischen Bundesstaat Punjab, von der im März 2023 etwa 27 Millionen Menschen betroffen waren. Im Bundesstaat Manipur hatten zudem etwa 3,2 Millionen Menschen mehr als 200 Tage lang keinen Zugang zum Internet.

Viele staatliche Leistungen ließen sich in Indien derweil nur noch online beantragen, sodass Menschen von diesen abgeschnitten würden. Auch die Wirtschaft leide unter den Einschränkungen.

37 Fälle hat die NGO in Myanmar dokumentiert – geht dort aber von einer hohen Dunkelziffer aus. Auch das Regime im Iran ließ mindestens 34-mal das Internet abschalten. In Kenia, Mosambik, Nepal und dem südamerikanische Suriname wurden im Jahr 2023 erstmals Netzsperren dokumentiert.

Felicia Anthonio, Kampagnenleiterin bei Access Now, sagte: “2023 war ein Jahr der schieren Verwüstung, die durch Internetsperren hervorgerufen und verstärkt wurde.” Regierungen hätten zu “prekären und beängstigenden Zeiten” zu der Maßnahme gegriffen.

Internetsperren während aktiven Konflikten

Zum ersten Mal waren Konflikte und Kriege der häufigste Hintergrund von Blockaden: 74-mal schränkten Konfliktparteien in neun Ländern die Kommunikationswege ein. Immer häufiger würden Armeen dies als Teil ihrer Strategien einsetzen, um die Zivilbevölkerung vom Rest der Welt zu isolieren. Die betroffenen Menschen bringe das in große Gefahr.

Im vergangenen Jahr traf dies beispielsweise Menschen im Sudan, wo seit April 2023 ein Bürgerkrieg tobt. Auch aktuell sind Teile des Landes weiterhin von jeglichen Telekommunikationsmitteln abgeschnitten – während der Krieg eine der derzeit weltweit größten humanitären Krisen verursacht hat.

In Myanmar hat die Militärjunta 2023 mehrfach Internet- und Telefonverbindungen im Vorfeld von Luftangriffen auf Wohngebiete unterbrochen. Access Now kritisiert, die angegriffene Zivilbevölkerung könne so keine Informationen über mögliche Evakuierungsrouten erhalten – und die Kontaktaufnahme mit Angehörigen werde verhindert. Mindestens elf der dortigen Netzsperren standen laut Access Now mit dokumentierten schweren Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen in Verbindung. Auch andere Länder hätten so versucht, solche Taten zu verschleiern.

Das russische Militär habe gezielt Infrastruktur in der Ukraine zerstört, wodurch auch Internetverbindungen beeinträchtigt wurden.

Proteste und Schulprüfungen

Im Zusammenhang mit Protesten dokumentierte Access Now in 15 Ländern Einschränkungen – so beispielsweise in Indien und im Iran. Im Senegal blockierte die Regierung zunächst Plattformen und schließlich das mobile Internet im Zuge von Protesten gegen die Verhaftung eines prominenten Oppositionspolitikers.

Auch in Pakistan hatte es nach der Verhaftung des ehemaligen Premiers Imran Khan Proteste gegeben – die ebenfalls mit Netzblockaden beantwortet wurden.

Einige Regierungen sehen Netzsperren sogar als geeignetes Mittel an, um Betrug während Schul- oder Universitätsprüfungen zu unterbinden: Access Now hat zwölf solcher Fälle in sechs Ländern dokumentiert, darunter Algerien, Indien, Kenia und der Irak.

Im Zusammenhang mit Wahlen hat die Organisation fünf Fälle dokumentiert. Sie lobt aber auch, dass ein Zusammenschluss von 38 Regierungen solche Maßnahmen verurteilt hat.

Access Now macht zudem einen neuen “besorgniserregenden Trend” aus, weil es 2023 in mindestens vier Ländern Einschränkungen im Zusammenhang mit Naturkatastrophen gab. Nach dem verheerenden Erdbeben in Teilen der Türkei und Syriens Anfang 2023 hatten etwa die türkischen Behörden zeitweise den Zugriff auf den Kurznachrichtendienst X (damals Twitter) einschränken lassen. Access Now kritisiert, es habe sich um einen Versuch gehandelt, Kritik an der Reaktion der Regierung auf die Katastrophe zu unterdrücken.

Auch solche Plattformblockaden rechnet Access Now in die Zahlen zu Netzsperren mit ein – und kritisiert, dass sie zunehmend verwendet wurden, um ganze Länder von wichtigen Kommunikationsplattformen abzuschneiden. Zudem würden so auch marginalisierte Gruppen ins Visier genommen – so können Menschen in zwölf Ländern die Dating-App Grindr nicht nutzen.

Aufruf zum Handeln

Access Now kritisiert, Regierungen würden das Internet beispielsweise einschränken, um Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen und Kritiker zum Schweigen zu bringen. Der aktuelle Bericht sei daher ein Aufruf zum Handeln. Auch UN-Experten verurteilen die Abschaltungen wegen ihrer Auswirkungen auf die Menschenrechte.

Access Now ruft Konfliktparteien auf, den Zugang zu Telekommunikationskanälen für die Zivilbevölkerung sicherzustellen, sodass Menschen Gefahrenwarnungen erhalten und mit Hilfsorganisationen und Angehörigen kommunizieren können.

Alle Staaten weltweit sollten außerdem gesetzlich verbieten, Telekommunikationsnetzwerke und Kommunikationsplattformen zu blockieren. Staaten, die solche Maßnahmen derzeit einsetzen, sollten sie aufheben.

Zach Rosson von Access Now erklärte: “Access Now und die #KeepItOn-Koalition können nicht genug betonen, wie ernst die Situation in Hinblick auf Internetsperren 2023 war. Wir befinden uns an einem Wendepunkt, der als Weckruf verstanden werden sollte: Alle Akteure auf der ganzen Welt – Regierungen, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor gleichermaßen – müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um Internetabschaltungen dauerhaft zu stoppen.” (js)