Reporter ohne Grenzen: Pressefreiheit in Deutschland nur noch "zufriedenstellend"
Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) hat ihre diesjährige Rangliste der Pressefreiheit veröffentlicht. Ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie stünden Medienschaffende in vielen Teilen der Welt so stark unter Druck wie selten zuvor, teilte ROG anlässlich der Veröffentlichung mit. Deutschland ist vom 11. auf den 13. Platz abgestiegen, die Situation habe sich von “gut” auf “zufriedenstellend” verschlechtert. Grund dafür sind zahlreiche Übergriffe auf Journalistinnen und Journalisten bei Demonstrationen.
Die Gewalt gegen Medienschaffende in Deutschland habe eine “noch nie dagewesene Dimension” erreicht: Mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Medienschaffende zählte ROG im Jahr 2020 – mehr als drei Viertel davon in Zusammenhang mit den Corona-Protesten. Hauptsächlich sei die Gewalt von Protestierenden ausgegangen – aber auch von der Polizei. Im Vergleich zum Jahr 2019 (13 Übergriffe) hat sich die Zahl der tätlichen Angriffe verfünffacht. Sie überschreitet sogar den bisherigen Höchststand von 39 Angriffen im Jahr 2015 während der Hochphase der sogenannten Pegida-Demonstrationen. Reporter ohne Grenzen geht zudem von einer “beträchtlichen Dunkelziffer” aus.
“Unabhängiger Journalismus ist das einzig wirksame Mittel gegen die Desinformations-Pandemie, die seit einem Jahr die Corona-Pandemie begleitet. Gleichzeitig ist es im vergangenen Jahr für viele Journalistinnen und Journalisten schwieriger denn je geworden, ohne Angst vor Gewalt oder Repressionen zu arbeiten. Wenn die Welt nun hoffentlich bald zur Normalität zurückkehrt, muss auch der Respekt für die unabdingbare Rolle des Journalismus für eine funktionierende Gesellschaft zurückkehren”, forderte Michael Rediske, Vorstandssprecher von ROG.
Kritik an Überwachungsbefugnissen
Positiv bewertet die Organisation in Deutschland das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Auslandsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst (BND): Unter anderem wegen Verstoßes gegen die Pressefreiheit hatte das Gericht die Praxis im Mai 2020 teilweise für verfassungswidrig erklärt. Doch auch die im März verabschiedete Neufassung des BND-Gesetzes ist aus Sicht von ROG problematisch, da sie die Überwachung ausländischer Journalisten nicht ausschließt. ROG behält sich daher vor, erneut Verfassungsbeschwerde einzulegen.
Die Organisation kritisiert außerdem die Pläne der Bundesregierung, allen 19 Geheimdiensten die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) zu erlauben: Vorgaben zum Schutz von Medienschaffenden und ihren Quellen würden in dem Gesetzentwurf fehlen.
Die Lage in Europa
Reporter ohne Grenzen bemängelt auch die Lage der Pressefreiheit im restlichen Europa: In Italien (Rang 41) sei es ebenfalls zu zahlreichen Übergriffen von Corona-Demonstranten auf Reporter gekommen. In Frankreich (Rang 34) wurden etliche Fälle von Polizeigewalt bekannt, vor allem bei Demonstrationen gegen ein umstrittenes Sicherheitsgesetz.
Und Großbritannien (Rang 33) sende ein verheerendes Signal für die Pressefreiheit, indem der Wikileaks-Gründer Julian Assange seit zwei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis festgehalten werde.
Ungarn (Rang 92) habe mit dem landesweit größten Nachrichtenportal Index.hu und dem kritischen Radiosender Klubrádió zwei unabhängige Medien de facto ausgeschaltet. Die Verbreitung von der Regierung als “Falschmeldungen” eingestufter Nachrichten über die Corona-Pandemie wurde zudem unter Strafe gestellt: Unabhängige Medien dürfen nicht mehr in Krankenhäusern und Corona-Impfzentren filmen.
In Belarus (Rang 158) beobachtete ROG, wie das Regime von Alexander Lukaschenko nach der umstrittenen Präsidentenwahl im August 2020 mit Gewalt versucht hat, unabhängige Berichterstattung zu unterdrücken. Bis zum Jahresende wurden dort mehr als 400 Journalisten festgenommen. Die Regierung sperrte zudem Dutzende unabhängige Nachrichtenseiten.
Das russische Parlament (Rang 150) habe eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, die die Pressefreiheit weiter einschränken und die Online-Überwachung verstärken.
Regierungschefs hetzen gegen die Presse
In Teilen der Welt hetzten Staats- und Regierungschefs gegen die Presse und einzelne Journalisten. Als Beispiele nennt Reporter ohne Grenzen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, Jair Bolsonaro in Brasilien und den slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša. In den USA (Rang 44) sei das letzte Amtsjahr von Trump von nie zuvor dagewesener Gewalt gegen Journalisten geprägt gewesen: Die Initiative Press Freedom Tracker zählte 400 Übergriffe auf Medienschaffende – größtenteils durch die Polizei im Umfeld der Black-Lives-Matter-Proteste.
Länder wie Mexiko, Honduras, Afghanistan, Irak und der Iran blieben weiterhin lebensgefährlich für Medienschaffende. Der Iran (Rang 174) habe 2020 die weltweit erste staatliche Exekution eines Medienschaffenden seit 30 Jahren durchgeführt, als der Journalist Ruhollah Zam erhängt wurde.
Den größten Abstieg in der Rangliste der Pressefreiheit hat Malaysia (Rang 119, -18) zu verzeichnen, nachdem es im Vorjahr um 22 Plätze aufgestiegen war. Dort strebe der Staat die absolute Kontrolle über Informationen an. Stark gefallen sind auch die Komoren (Rang 84, -9), wo die Regierung Medienschaffende verfolgt, um die Informationshoheit über die Corona-Pandemie zu behalten.
Am Ende der Rangliste hat sich wenig getan: Mit leichten Verschiebungen belegen drei totalitäre Regime seit Jahren die letzten Plätze 178 bis 180: Turkmenistan, Nordkorea und Eritrea. In allen drei Ländern halten die Regierungen die komplette Kontrolle über alle Informationsflüsse. Eritrea hüllt sich zudem in Schweigen über den Verbleib von 11 Journalisten, die vor 20 Jahren verhaftet wurden. China verharrt aufgrund umfassender Internetzensur und Überwachung sowie Propaganda im In- und Ausland auf Platz 177.
Skandinavien an der Spitze
Die größten Aufsteiger finden sich in diesem Jahr in den afrikanischen Staaten südlich der Sahara: Burundi verbesserte sich um 13 Plätze auf Rang 147, nachdem vier inhaftierte Mitarbeiter des Senders “IWACU” nach einem Jahr Willkürhaft freigelassen wurden. Sierra Leone (Rang 75, +10) schaffte ein Gesetz ab, das Pressevergehen unter Strafe stellte und in Mali (Rang 99, +9) ging die Zahl der Übergriffe auf Journalisten zurück. Trotzdem bleibe Afrika der gefährlichste Kontinent für Medienschaffende, teilte ROG mit.
Norwegen belegt zum fünften Mal in Folge den ersten Platz. Finnland bleibt auf Platz 2, während Schweden (Rang 3) und Dänemark (Rang 4) die Plätze getauscht haben. Direkt darauf folgt Costa Rica als mit Abstand bestplatziertes Land in Lateinamerika. Menschenrechte und Meinungsfreiheit werden dort laut ROG respektiert wie in keinem anderen Land der Region.
Seit Einführung der aktuellen Methodik für die Rangliste der Pressefreiheit im Jahr 2013 gab es noch nie so wenige Länder, in denen ROG die Lage der Pressefreiheit als “gut” bewertet hat. Ihre Zahl sank von 13 auf 12. Die Pressefreiheit ist demnach in fast drei Viertel der 180 untersuchten Länder bedeutend eingeschränkt: In 73 Ländern wird unabhängiger Journalismus weitgehend oder vollständig blockiert; in 59 Ländern ernsthaft behindert.
Die Rangliste basiert auf einem Fragebogen zu verschiedenen Aspekten journalistischer Arbeit sowie den von ROG ermittelten Zahlen von Übergriffen, Gewalttaten und Haftstrafen gegen Medienschaffende im Jahr 2020. Da die Befragung zwischen Mitte Dezember 2020 und Ende Januar 2021 stattfand, spiegeln sich Ereignisse wie der Militärputsch in Myanmar noch nicht in der aktuellen Rangliste wider. (js)